Regionalwahlen in Frankreich: Le Pens Siegeszug und die hilflosen Erklärungsversuche deutscher Leitmedien

Le Pen hat auf ganzer Linie gesiegt in der ersten Runde der Regionalwahlen. Sie ist aber nicht erst seit gestern die große Siegerin. Zuletzt hatte ihre Partei, der Front National (FN), bei den Départementwahlen im März kräftig zugelegt. Wir hatten uns mit dem Ergebnis unter der Überschrift “Départementwahlen in Frankreich: Wirtschaftlich gescheitert, politisch gescheitert” auseinandergesetzt (siehe hier, im Abonnement). Darunter ließe sich auch das Wahlergebnis der ersten Runde der Regionalwahlen fassen. Was im übertragenen Sinne nicht zu fassen ist, sind die hilflosen Erklärungsversuche in den deutschen Leitmedien.

Zwar wird die Massenarbeitslosigkeit in dem einen oder anderen Bericht und Kommentar genannt. Wenn das der Fall ist, wird sie aber auf mangelnden Reformwillen der französischen Regierung zurückgeführt. Nehmen wir Michaela Wiegel, Politische Korrespondentin mit Sitz in Paris der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), eine Stelle, die die FAZ getrost einsparen kann, wenn es zu mehr nicht reicht (nicht weniger beschränkt der Kollege Christian Wernicke in der Süddeutschen Zeitung [SZ], vielleicht ja negativ beeinflusst durch die regelmäßige Lektüre des Wirtschaftsteils der SZ):

“Das Versagen der politischen Eliten kann nicht länger geleugnet werden. Jetzt rächt sich, dass keine Regierung während des vergangenen Jahrzehnts den Mut zu ernsthaften Reformen aufbrachte. Missstände wurden verschleppt oder schöngeredet. Die Franzosen sehen sich gezwungen, sich mit Massenarbeitslosigkeit und dem Niedergang der Industrie abzufinden, mit dem Scheitern der Integrationspolitik und dem Leistungsschwund an den staatlichen Schulen. Sie müssen hinnehmen, dass ihre Steuerlast beständig steigt, obwohl Frankreich die europäischen Defizitregeln nicht einhält und weit von einer Sanierung des Staatshaushalts entfernt ist.”

Was “ernsthafte Reformen” sein sollen, lässt Wiegel offen. So dämlich geht es im deutschen Leit-Journalismus leider schon seit vielen Jahren zu. Das Schlimmste ist dabei der offensichtlich fehlende Anspruch, einer Sache auf den Grund zu gehen. Stattdessen wird mit Füllseln wie “Reformen” gearbeitet oder, treffender: beim Denken gefaulenzt. Diese journalistische Leistungsverweigerung steht der politischen, die Wiegel ja durchaus zurecht beklagt, in nichts nach. Was Frankreich wirtschaftlich fehlt ist ein Wirtschaftswachstum, das angemessen ist, die historisch hohe Arbeitslosigkeit spürbar in einem zeitlich vertretbaren Rahmen zu senken. Dieser zeitlich vertretbare Rahmen, das zeigen die Wahlerfolge des Front National, ist im Grunde genommen längst ausgereizt. Die Uhr ist abgelaufen. Das bis heute nicht erkannt und wirtschaftspolitisch entsprechend gehandelt zu haben, ist das Versagen der politischen Eliten. Das festzustellen ist etwas ganz anderes, als das bodenlos dumme Gefasel von “ernsthaften Reformen”. Das zu verstehen setzt freilich voraus, den Zusammenhang von Konjunktur und Arbeitslosigkeit zu verstehen. Das aber geht nicht nur den politischen Eliten in Frankreich ab, sondern noch viel mehr und viel länger schon den politischen, journalistischen und wirtschaftswissenschaftlichen Eliten in Deutschland. Denn auch in Deutschland wird spätestens seit der Agenda 2010 der Zusammenhang von Konjunktur (Wirtschaftswachstum) und Arbeitslosigkeit ausgeblendet (siehe hierzu zuletzt hier und hier, beides freie Beiträge). Das auf politischer Ebene ein peinlich schwacher französischer Präsident und dessen nicht minder peinlich schwache Minister auf eine borniert starke deutsche Kanzlerin, ihren nicht minder borniert starken Finanzminister und plump doofen deutschen Wirtschaftsminister treffen, hat unter diesen Voraussetzungen das Zeug zu einer historischen Katastrophe. An sich hätte die Geschichte anders geschrieben werden müssen, unter umgekehrten Vorzeichen: Der französische Präsident hätte der deutschen Kanzlerin und dem deutschen Finanzminister wie dem deutschen Wirtschaftsminister die Leviten lesen müssen. Denn es waren und sind die deutschen “Reformen” die dafür gesorgt haben, dass Deutschland bis heute zu wenig Nachfrage auch auf seinen französischen Nachbarn richtet, weil die Agenda 2010 die Lohnentwicklung ausgebremst hat. Die Löhne aber sind das mit Abstand größte Aggregat der Volkswirtschaft. Ihr Anteil am nominalen Bruttoinlandsprodukt liegt bei über vierzig Prozent. Gleichzeitig hat die nicht verteilungsneutrale deutsche Lohnentwicklung die Inflationsrate nachhaltig unter das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von “unter, aber nahe zwei Prozent” gedrückt. Frankreich hat das Inflationsziel nicht zuletzt wegen seiner verteilungsneutralen Lohnentwicklung bis zum Ausbruch der Finanz- und Eurokrise eingehalten. Frankreich hat also nicht nur unter einer schwachen Nachfrage aus Deutschland zu leiden, sondern auch unter einer realen Abwertung, einer relativen Verbilligung deutscher Waren gegenüber französischen Waren, die bei der gemeinsamen Währung, dem Euro, aus der akkumulierten Differenz der Inflationsraten resultiert. Wir haben dies schon des Öfteren empirisch nachgewiesen und erläutert. Verteilungsneutrale Lohnentwicklung heißt, dass die Lohnentwicklung den durch die Produktivitätsentwicklung und das Inflationsziel der EZB vorgegebenen Verteilungsspielraum ausschöpft.

Wollte Deutschland sich tatsächlich solidarisch mit Frankreich erklären, müsste es keine Tornados aufsteigen lassen, um an Frankreichs Seite einen sinnlosen und völkerrechtswidrigen Krieg in Syrien zu führen, sondern Deutschland müsste seine Löhne stärker steigen lassen.

Die Fehlentwicklung nicht nur in Frankreich, sondern in der Europäischen Währungsunion (EWU) insgesamt, deren wesentlicher Ausdruck die Massenarbeitslosigkeit ist, basiert im Kern auf der Missachtung des Zusammenhangs von Konjunktur und Arbeitslosigkeit. Das praktiziert die Bundesregierung seit langem, das kennzeichnet auch die Politik der EU-Kommission und der EZB und, seit jüngerer Zeit, nun auch Frankreichs, die nach Deutschland größte Volkswirtschaft der EWU. Auch Italien, Spanien, Portugal, Griechenland versuchen am deutschen Unwesen zu genesen, indem sie jenen wirtschaftspolitischen Leitlinien der Agenda 2010 folgen. Das Ergebnis ist eine neue Form eines Abwertungswettlaufs, der sich mangels unterschiedlicher Währungen über Lohn- und Preissenkungen vollzieht.

Frankreich muss sehr viel Geld in die Hand nehmen, um die Massenarbeitslosigkeit und die damit verbundenen Integrationsprobleme zu überwinden. Das ist mit einem deutschen Riesen als Nachbarn, der ökonomisch unbeirrt auf Frankreich herumtrampelt, während er sich militärisch mit Frankreich solidarisch erklärt, nicht zu machen; auch nicht mit der wirtschaftspolitischen Orientierung und Praxis der EU-Kommission und der EZB; und auch nicht mit der seit jüngerer Zeit von der französischen Regierung kopierten Agenda 2010 (siehe hierzu unsere Beiträge an anderer Stelle und unsere monatliche Konjunktureinschätzung für Frankreich). Insofern ist der Sieg Le Pens tatsächlich das Ergebnis des Versagens der politischen Eliten. Dieses Versagen ist aber kein auf Frankreich isoliertes, sondern ein europäisches, zuallererst auch ein Versagen der deutschen Eliten, der politischen, wirtschaftlichen, wirtschaftswissenschaftlichen und journalistischen Eliten. Wer Le Pen, den Front National und andere radikale Parteien verhindern will, muss den Zusammenhang von Konjunktur und Arbeitslosigkeit zur Grundlage seiner wirtschaftspolitischen Orientierung und Praxis machen. Die darüber mögliche Überwindung der Massenarbeitslosigkeit und anderer Missstände gibt den Menschen eine Perspektive zurück, die ihnen die derzeit herrschende Politik genommen hat. Die Menschen werden dann auch nicht länger das Heil bei Le Pen und anderen Radikalen suchen, auch nicht beim Islamischen Staat. Man kann dies friedlich im Rahmen der EWU leisten, vorausgesetzt, dass sich alle an die Regeln halten, die für eine solche Entwicklung unerlässlich sind, vorneweg Deutschland, das die wichtigste Regel der Währungsunion, die Einhaltung des gemeinsamen Inflationsziels, gebrochen hat und bis heute keine Anstalten unternimmt, die darüber akkumulierten Ungleichgewichte auszugleichen.


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