Abseits des Regierungsviertels: Was macht eigentlich glücklich?

Heute, Landtagswahlen im Saarland. Kurz vor halb zwei, mittags, erneut wolkenloser Himmel. Ich sitze gegenüber dem Bode Museum, an einem kleinen runden Tisch mit gusseisernem Fuß, schwarz, ein Latte Macchiato steht vor mir. Meine alte Labrador-Hündin, Queeny, entspannt sich zu meinen Füßen. Vielleicht ist sie etwas erschöpft von dem Gang hierher. Hinter mir ruht eine kleine Baustelle, ein Amphitheater, das jedes Jahr zum Frühling aufgebaut wird. Klassiker werden dann gespielt. Leichte Kost.

::Buchtipp::


Gerade habe ich weiter in John Steinbecks (fast hätte ich Steinbrück geschrieben, es ist ja auch ein Wahlsonntag, im Saarland zumindest) “Das Tal des Himmels” gelesen; lauter kleine Schauergeschichten, die trotz ihrer Skurilität ebenso gut wahr sein könnten; ich bin gespannt, ob auch nur eines der darin gezeichneten Schicksale einen guten Ausgang nehmen wird.

Ich bin mitten in Berlin-Mitte, und doch herrscht hier eine Beschaulichkeit und Ruhe, die man fast dörflich, ländlich nennen könnte; die Spree fließt lautlos dahin; Schiffe, beladen mit Touristen, fahren sie auf und ab; einige Fußgänger flanieren an mir vorüber, der ein oder andere Jogger und Fahrradfahrer; aber alles ruhig und unaufgeregt.

Heute früh habe ich überlegt, was eigentlich glücklich macht; vielleicht, kam mir der Gedanke, ist es, sich bewusst zu werden über die eigene Bedeutungslosigkeit; vielleicht ist es genau das, was befreit; sich seines vorübergehenden Aufenthaltes bewusst zu sein und diesen umso genüsslicher auszukosten. Wieviel Leid, auch individuelles Leid, ist doch damit verbunden, etwas Großes erreichen zu wollen, diese oder jene Hürde um des Erfolges wegen nehmen zu müssen, manchmal auch nur, weil es andere von einem erwarten, oder, weil man in dieser Erwartungshaltung erzogen wurde und diese Erziehung so verinnerlicht hat, dass man es nun von sich selbst erwartet. Und vielleicht, wahrscheinlich sogar, weil heute Wahlen im Saarland sind, muss ich daran denken, was wohl jemanden dazu bewegen kann, sich, und sei es nur zum Fasching, oder heißt es Karneval, in die Uniform eines Massenmörders zu werfen; ich meine die Uniform Napoleons; sucht da jemand noch seinen Platz in der Geschichte, hat sich aber gründlich verirrt, geirrt, hat sich gehörig im Kreis gedreht und ist nun wieder da angelangt, wo er vor Jahrzehnten aufgebrochern ist? Ich denke an einen Film über Napoleon, ich glaube Rod Steiger spielt diesen skrupellosen Aufschneider und Feldherren; und ich sehe wie er seine Landsleute auf die Schlachtbank des Krieges gegen die Engländer und Deutschen führt. Ein Besessener.

::Buchtipp::


Vielleicht ist es aber auch die “Fettkugel”, die Boule de Suif, die diese Gedanken in mir wachruft. Ich hatte sie gerade einige Tage zuvor hervorgeholt und erneut gelesen. Guy de Maupassant eröffnet diese Novelle in seiner unvergleichlichen Art, die sich durch ebensolche Leichtigkeit und Präzision in der Sprache wie tiefe Durchdringung des Gegenstands und der ihm zugehörigen Personen auszeichnet, mit diesen Sätzen: “Mehrere Tage hintereinander hatten Trümmer der geschlagenen Armee die Stadt durchzogen. Es war keine Truppe mehr, es waren zersprengte Horden. Die Männer trugen lange, schmutzige Bärte, zerfetzte Uniformen, und sie schleppten sich schlaff, ohne Fahne ohne Ordnung…Überreste einer in einer großen Schlacht aufgeriebenen Division…” Wenig später heißt es in einem Dialog: “Aber nein, Madame, diese Soldaten, das ist zu gar nichts nütz! Und das arme Volk muss sie ernähren, damit sie nichts lernen als Morden!…sollte man nicht eher alle Könige erschlagen, die das zu ihrem Vergnügen tun?” Das ist jedoch nur der Rahmen, in dem die Boule de Suif spielt. Der eigentliche Inhalt dreht sich um eine Person, die Boule de Suif, eine Prostituierte, die gemeinsam mit “hohen Herrschaften” auf die Reise geht bzw. der von fremden Mächten besetzten Stadt zu entfliehen sucht; in diesem Rahmen entwickelt Guy de Maupassant eine allzu menschliches Miteinander bzw. Gegeneinander: ein Mensch, die Boule de Suif, durch ihren gesellschaftlichen Stand von den anderen nicht zu ihresgleichen gerechnet, wird, wie es den hohen Herrschaften gerade nützt, benutzt und, wenn sie nicht mehr gebraucht wird, trotz ihrer zuvor geleisteten Aufopferung brutal und gewissenlos fallen gelassen. Auch das, sinniere ich, ist erstaunlich aktuell und lebensnah. – Ich werde unterbrochen; zwei junge Frauen fragen, ob sie sich zu mir setzen dürfen; Queeny richtet sich sogleich auf und begrüßt die beiden, indem sie ihre kalte feuchte Hundenase an den nackten Knien der beiden reibt, die kichernd aufschrecken und sogleich ihre Hände in Queenys weiches Fell tauchen; ihr frühlinghaftes Aussehen und ihre gesprächige Art lassen mich Guy de Maupassant schnell vergessen (ich denke, das wäre ganz in seinem Sinne und nach seinem Geschmack gewesen), und auch Spree und Saar lasse ich für´s erste einmal unbeaufsichtigt. Ich spüre, ich bin glücklich.

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