Hartz IV und die Folgen – Von Christoph Butterwegge

Am 1. Januar 2015 ist das unter dem Kürzel “Hartz IV” bekannte Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zehn Jahre in Kraft. Noch immer hat die nach Dr. Peter Alwin Hartz (seinerzeit Vorsitzender einer Regierungskommission zu diesem Thema) benannte Arbeitsmarktreform nichts von ihrer politischen Brisanz verloren. Wahrscheinlich hat außer den Notstandsgesetzen überhaupt kein Gesetzespaket die Bundesrepublik Deutschland so stark polarisiert wie Hartz IV.

Anlässlich des besagten “Jubiläums” bietet es sich an, eine umfassende Bilanz der Reformmaßnahmen zu ziehen. Je intensiver man sich damit befasst, umso klarer wird, dass es sich bei Hartz IV um ein zutiefst inhumanes System voll innerer Widersprüche handelt, das Menschen entrechtet, erniedrigt und entmündigt. Sowohl die von dem Gesetzespaket unmittelbar Betroffenen wie auch ihre Angehörigen und die mit ihnen in einer “Bedarfsgemeinschaft” zusammenlebenden Personen werden stigmatisiert, sozial ausgegrenzt und isoliert. Es geht jedoch weniger um ein moralisches Werturteil, das unter Würdigung aller Gesichtspunkte vernichtend ausfallen muss, als um die Analyse der arbeitsmarkt-, beschäftigungs-, wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Implikationen von Hartz I-IV.

Hartz IV spaltet die Gesellschaft, und zwar materiell wie mental. Schließlich scheiden sich an der nach einem früheren VW-Manager benannten Arbeitsmarktreform sich bis heute die Geister: Waren die rot-grünen Arbeitsmarktreformen nun ein großer Erfolg, wie PolitikerInnen der etablierten Parteien und fast alle Massenmedien beteuern? Und wenn ja, für wen? Gibt es nicht erheblich mehr VerliererInnen als GewinnerInnen der Reformpolitik, die von ihren KritikerInnen als neoliberal gebrandmarkt wird? Die meisten KommentatorInnen bescheinigen dem Artikelgesetz, für enorme Fortschritte im Kampf gegen die Massenerwerbslosigkeit gesorgt, das Wirtschaftswachstum beflügelt und Deutschlands Wohlstand gemehrt zu haben. Sogar unter den zahlreichen SkeptikerInnen sind nur wenige, die erkennen, dass Hartz IV zu Verschlechterungen in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens geführt hat. Durch die Hartz-Gesetze wurde nicht bloß der Arbeitsmarkt dereguliert, die Leiharbeit liberalisiert und der einzelne Transferleistungsempfänger stärker als bisher drangsaliert, die Bundesrepublik Deutschland vielmehr auch in einer bis dahin unbekannten Weise sozial fragmentiert und politisch formiert.

Das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt war Kernbestandteil eines Projekts zur Restrukturierung der Gesellschaft, welches die ganze Architektur und die innere Konstruktionslogik des bisherigen Sozialstaates in Frage stellte. Längst ist das Gesetzespaket namens “Hartz IV” die markanteste Chiffre für den “Um-” bzw. Abbau des Sozialstaates, welcher unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt gegen Mitte der 1970er-Jahre begann und etwa seit der Jahrtausendwende von sämtlichen Bundesregierungen gleich welcher Couleur beschleunigt fortgesetzt wurde. Es ging dabei um mehr als Leistungskürzungen in einem Kernbereich des sozialen Sicherungssystems, nämlich um einen Paradigmenwechsel der Regierungspolitik, anders formuliert: um eine gesellschaftliche Richtungsentscheidung, die das vereinte Deutschland seither maßgeblich prägt.

Längst ist “Hartz IV” europaweit das bekannteste Symbol für den Sozialabbau und gilt hierzulande als tiefste Zäsur in der Wohlfahrtsstaatsentwicklung nach 1945: Zum ersten Mal wurde damit eine für Millionen Menschen in Deutschland existenziell wichtige Lohnersatzleistung, die Arbeitslosenhilfe, abgeschafft und durch eine bloße Fürsorgeleistung, das Arbeitslosengeld II, ersetzt. Aber weit mehr als das: Durch die Agenda 2010 des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und die nach seinem Bekannten Peter Hartz benannten Gesetze, vornehmlich das vierte, ist Deutschland zu einer anderen Republik geworden. Diese berühmt-berüchtigte Arbeitsmarkt- und Sozialreform hat das Armutsrisiko von (Langzeit-)Erwerbslosen und ihren Familien, aber auch von prekär Beschäftigten spürbar erhöht und einschüchternd auf weitere Bevölkerungskreise gewirkt. Ein ausufernder Niedriglohnsektor, der bald fast ein Viertel aller Beschäftigten umfasst, gehört ebenso zu den Folgen wie Entdemokratisierungstendenzen und die Verbreitung sozialer Eiseskälte.

Wenn nicht alles täuscht, wird die Hartz-Reform das Gesicht der Bundesrepublik auch künftig bestimmen, während soziale Alternativen eher ein politisches Schattendasein fristen dürften. Gleichwohl besteht noch immer die Hoffnung, dass der selbst von Helmut Schmidt mehrfach als “Europas größte kulturelle Errungenschaft im 20. Jahrhundert” bezeichnete Sozialstaat, wie ihn die ZeitgenossInnen des Altbundeskanzlers kannten und schätzten, weder ein historisches Auslaufmodell ist noch demnächst zum Weltkulturerbe erklärt werden muss. Soll er nicht ins Museum der Altertümer neben das Spinnrad und die bronxene Axt wandern, muss baldmöglichst ein grundlegender politischer Kurswechsel erfolgen.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Soeben ist sein Buch “Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?” (290 Seiten; 16,95 Euro) bei Beltz Juventa erschienen.

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