Griechenland: Deutsche Politiker arbeiten unverfroren an neuer “Dolchstoßlegende”

“Wenn es denn so einfach wäre. Was Tsipras jetzt an den ersten Tagen bereits signalisiert ist, dass er das Erbe von Samaras, weil ja Griechenland heute gut dasteht, zu verspielen droht und dass er ein wirklich neues griechisches Drama auslösen will… und dann hoffen wir, dass er seiner Verantwortung gerecht wird, zurückkehrt zu dem Samaras-Weg, den Griechenland erfolgreich jetzt gegangen ist.” So Manfred Weber, CSU-Politiker und Voristzender der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament, heute früh im Deutschlandfunk. Und glauben Sie nicht, dass Moderator Jasper Barenberg auch nur eine kritische Nachfrage gestellt hätte (das vollständige Interview ist hier nachzulesen: “Tsipras spielt mit dem Feuer”). Beide, Politiker und Journalist, stehen damit stellvertretend für viele ihrer KollegInnen.

Die Aufregung in Politik und Medien ist allgemein groß, seitdem es eine zweite, eine konträre Meinung in der Europäischen Währungsunion (EWU) gibt, die den bisherigen politischen Kurs grundsätzlich in Frage stellt. Das äußert sich auch in kleinen Nuancen, die eine ungesunde Voreingenommenheit und Parteilichkeit zeigen. So hieß es gestern gleich mehrmals im Deutschlandfunk in der normalen Berichterstattung bzw. Anmoderation, nicht in einem Kommentar, dass Griechenland “ausgerechnet” einen Finanzminister ernennt, der sich gegen die bisherige Politik der EU-Kommission richtet.

Hier soll sich aber auf die deutsche Politik konzentriert werden, die mit Aussagen wie der oben zitierten von Weber geradewegs an einer neuen Dolchstoßlegende arbeitet. Der Tenor dieser Dolchstoßlegende ist unüberhörbar: Die bisherige Politik gegenüber Griechenland wäre erfolgreich gewesen; die politische Wende unter Tsipras aber würde jetzt, in Webers Worten, “ein wirklich neues griechisches Drama auslösen”. Das kann in keinem Fall – und das ist keine Frage der persönlichen Meinung, sondern eine Frage von richtig und falsch – einer seriösen Prüfung standhalten. WuG hat dies seit langem immer wieder in Beiträgen sowohl theoretisch als auch empirisch nachgewiesen. Zahllose international anerkannte Wissenschaftler außerhalb Deutschlands, unter ihnen Nobelpreisträger, haben dies ebenfalls getan. Der englische Notenbankpräsident erst gestern ganz grundsätzlich in einer Rede in Dublin.

Selbst ungeachtet jeder genaueren Analyse aber ist die wirtschaftliche und soziale Katastrophe, die seit der Durchsetzung der Austeritätspolitik (Senkung der Staatsausgaben und der Löhne und der Abbau von Arbeitnehmerrechten) im Frühjahr 2011 über Griechenland hereingebrochen ist, unübersehbar. Zu sagen, Griechenland habe sich unter dieser Politik positiv entwickelt, ist blanker Zynismus. Dies von journalistischer Seite einfach so stehen zu lassen, völlig verfehlt. Es verkennt auch die parallelen Entwicklungen in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal, vor allem aber die Verantwortung Deutschlands für die Eurokrise. Auch das hat WuG seit langem immer wieder aufgezeigt.

Zu meinen, wie Gabriel ebenfalls heute, “Europa und die Troika seien an den Problemen in Griechenland nicht schuld”, ist vor diesem Hintergrund und der Eindeutigkeit der Ursachen für die Entwicklung seit Beginn der “Rettungspolitik” absolut unverfroren. Niemand, der mit dem Thema politisch oder journalistisch befasst ist, kann von der Lage in Griechenland nichts gewusst haben und auch nicht die Ursachen für diese Lage, die eine Niederlage der herrschenden Politik ist, wirklich verkennen.

Über die Uneinsichtigkeit und Unverfrorenheit, die die Politik jetzt in der aufgezeigten Art und Weise an den Tag legt, über den durchsichtigen Versuch, der neuen griechischen Regierung eine Dolchstoßlegende anzuhängen, muss daher aufgeklärt werden. Die deutschen Medien sollten versuchen, ihrer Verantwortung besser oder überhaupt gerecht zu werden. Das, was hierzu mehrheitlich, nicht erst mit dem Regierungswechsel in Griechenland, zu hören ist, wird dem Anspruch einer “vierten Gewalt” jedenfalls nicht gerecht. Die deutschen Medien, auch das haben wir regelmäßig nachgezeichnet, haben vielmehr selbst in ihrer Mehrheit jenen verheerenden politischen Kurs in der EWU nicht nur nicht hinterfragt, sondern befürwortet, ohne sich um die Auswirkungen dieser Politik angemessen zu scheren. Von daher ist die Hoffnung nicht allzu groß, dass die Medien jetzt ihrem eigenen Anspruch gerecht werden, den sie so gern und selbstgerecht vor sich hertragen. Sie sind seit langem Teil und nicht Lösung des Problems einer völlig verfehlten, die Grundfesten Europas erschütternden Politik.

Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung finanziert sich ausschließlich über Abonnements und Spenden. Noch sind diese nicht Existenz sichernd. Guter Journalismus muss bezahlt werden, um zu überleben. Deswegen:

Abonnieren Sie Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung oder spenden Sie bitte an:




————————————————————-

Sie können helfen, unseren Leserkreis zu erweitern!

Wirtschaft und Gesellschaft hat jetzt auch eine und freut sich über jedes “Gefällt mir”.

————————————————————-


Dieser Text ist mir etwas wert


Verwandte Artikel: