Wider besseren Wissens? – WSI-Herbstforum zur “Gespaltenen Gesellschaft” findet trotz drängender Fragestellungen keinen Widerhall in den Medien

Auf ganzer Linie gescheitert...

Trotz hochkarätiger Besetzung und eines Themas, das Politik, Medien und Gesellschaft nicht erst aufgrund der aktuellen Ereignisse um die Neonazi-Szene auf der Suche nach Antworten umtreiben müsste, hat – zumindest laut Google-News-Suche – lediglich eine Zeitung über das WSI-Herbstforum berichtet. Und das noch dazu äußerst schmalspurig.

“Spaltung heißt nicht nur soziale Ungerechtigkeiten bei Beschäftigten und Familien; sie bedeutet auch Ungleichgewichte zu Lasten der privaten und öffentlichen Nachfrage, des Wachstums, des sozialen Zusammenhalts, der gesellschaftlichen Zukunft, der Funktionsfähigkeit Europas. Dieser ´gespaltenen Gesellschaft´ widmet sich das diesjährige WSI-Herbstforum mit Referaten und Diskussionen zu diversen Aspekten auf nationaler und europäischer Ebene.” So heißt es einleitend in der Einladung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI).

Gustav Horn, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), eröffnete das Forum und gab unumwunden zu, dass Verteilungsfragen jahrelang bei der Wirtschaftswissenschaft nur in zweiter Reihe standen und über viele Jahre Fehlentwicklungen hingenommen wurden (vergleiche dazu auch das ).

Am erschütternsten vielleicht der Vortrag von Wilhelm Heitmeyer, Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. “Deutsche Zustände – endlich ernst nehmen”, war sein Vortrag überschrieben.

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Seit 2001 untersuchen Heitmeyer und sein Institut in jährlichen, repräsentativen Bevölkerungsumfragen den Zustand dieser Gesellschaft. Heitmeyer wies gleich einleitend darauf hin, dass diese Art der Untersuchung mit einer letzten Publikation im Dezember ein Ende fände. Die Förderung durch die Volkswagen Stiftung sei beendet, und es habe sich kein weiterer Finanzier gefunden.

Wer jetzt automatisch an die Bundesregierung bzw. Bundesmittel denkt, sollte folgende Realität zur Kenntnis nehmen: Auf meine Frage am Ende seines Referates, wie es denn um die Wahrnehmung der Arbeit durch Politik und Medien bestellt sei, antwortete Heitmeyer, dass seit fünf, sechs Jahren Funktstille seitens der Politik herrsche. Seine Arbeit würde schlichtweg nicht nachgefragt.

“Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit” lautet der eigentliche Titel der Studie, deren Ergebnisse am 12. Dezember das letzte Mal der Öffentlichkeit vorgestellt werden und im Suhrkamp Verlag erscheinen.

“Wie geraten eigentlich schwache Gruppen der Gesellschaft in den Fokus von Abwertung, Diskreminierung und von Gewalt?”, ist eine zentrale Frage der Forschungsgruppe. Konkret nennt Heitmeyer Zugewanderte, Homosexuelle, Juden, Muslime, Obdachlose. “Unsere Auffassung”, so Heitmeyer, “ist, dass der humane oder inhumane Zustand dieser Gesellschaft nicht in den Feuilletons oder in den berühmten Talk-Shows entschieden wird, sondern im Umgang mit schwachen Gruppen.” Heitmeyer verwies dabei in aller Zurückhaltung darauf, dass sein Institut bereits 1997 die These aufgestellt habe, dass die soziale Spaltung, die heute nicht länger zu leugnen ist, kommen würde.

Ein wesentlicher Hintergrund für diesen Zustand sei die Veränderung des Verhältnisses von Ökonomie und Politik. Heitmeyer sprach in diesem Zusammenhang von einem massiven Kontrollgewinn des Kapitals und einem massiven Kontrollverlust nationalstaatlicher Politik und deren Auswirkungen auf das Verhalten mit demokratischen Prozessen. Er fasste diesen Tatbestand mit dem Wort “Demokratieentleerung” zusammen. So drücke sich beispielsweise die “Ökonomisierung des Sozialen” auch aus in “ökonomistischen Denkweisen” in der Gesellschaft.

Von hier aus holte Heitmeyer weit aus. “Krise”, so Heitmeyer, “ist erst dann gegeben, wenn der Zustand vor der Krise nicht wieder hergestellt werden kann. Ansonsten kann es sozialer Wandel sein.” “Gott sei Dank bin ich keiner, der in die Zukunft gucken kann, sonst würde man ja verrückt”, kommentierte sich der Soziologe selbst.

Ein Ergebnis sei jedoch völlig klar: Für diejenigen, die sich von einer Krise bedroht fühlten, sei der Zustand der Angst “real”. “Da können nicht andere kommen und sagen: Warum musst Du Dich eigentlich unsicher fühlen.” Wenn Angst im Spiel sei, sei diese Angst immer real. “Niemand, auch nicht Frau Merkel und auch nicht Herr Steinmeier können den Menschen dies ausreden.”

Jene Ängste gelte es daher zurückzuspiegeln auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Teilhabe am Arbeitsmarkt, Teilhabe am Wohnungsmarkt, Teilhabe an Bildung und die subjektive Ebene: die Anerkennung.

Ein weiterer Gesichtspunkt sei der Aspekt der Teilhabe an der Ausgestaltung der Gesellschaft. Erst, wenn er selbst einfluss nehmen könne, empfinde der Mensch “moralische Anerkennung”, ein Bürger “erster Klasse” zu sein.

Die individuelle Anerkennung, so Heitmeyer, bilde schließlich eine dritte Ebene in diesem Konstrukt.

Was passiert, so eine zentrale Frage Heitmeyers, wenn diese Intergrationsebenen nicht mehr greifen?

Die große Gefahr, das Krisenmoment, scheint dann gegeben zu sein, wenn die individuelle Aufwertung des eigenen Selbstbildes, der eigenen Position, einhergeht mit der Abwertung von schwachen Gruppen.

Wie werden vor diesem Hintergrund Krisen verarbeitet? 75 %, so ein Ergebnis der von Heitmeyers Institut durchgeführten Umfragen, gehen davon aus, dass die Bedrohung des Lebensstandards sich negativ auswirkt auf die Solidarität mit Schwachen. 60 % nehmen an, dass die Bemühungen um soziale Gerechigtkeit unter diesen Voraussetzungen nicht mehr erfolgreich sein können.

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Seit 2009 sei nun eine irritierende Entwicklung zu beobachten: Dass die Frage des Einforderns von etablierten Vorrechten sich zu verändern scheinen. Und zwar gerade bei den Gruppen mit höheren Einkommen. Und das vor dem Hintergrund der Umverteilung von unten nach oben, die in den vergangenen Jahren so dramatisch statt gefunden hat.

Vor diesem Hintergrund forderte Heitmeyer ein, dass man eine veränderte Debatte führen müsse. Auch bei Fremdenfeindlichkeit zeichneten sich gerade bei Gruppen mit höheren Einkommen negative Veränderungen ab.

Nützlichkeit, Effizienz, Verwertbarkeit würden immer stärker in Bereiche überspringen, die nicht ökonomisch organisiert sind, wie Familie, Bildung. Heitmeyer sprach von einer Ökonomisierung des Sozialen und warf eine weitere Schreckensmeldung auf die Leinwand: 44 Prozent meinen, dass wir uns in der Gesellschaft nicht mehr so viel ökonomische Nachsicht leisten können.

Wie konnte es soweit kommen? Heitmeyers These: Das zunächst in “Elitediskursen” sich abbildende, neoliberale Verständnis von Wirtschaft, würde nach und nach auch einsickern in die breite Wahrnehmung der Bevölkerung: “Neoliberawles Denken infiziert nicht nur die Finanzmärte, sondern auch die Einstellung in der Bevölkerung. ”

Die Korrelation zwischen ökonomistischer Einstellung und der Abwertung von Langzeitarbeitslosen sei dabei seit langem besonders ausgeprägt. Vor allem bei der jüngeren Bevölkerungsgruppe. Die Zusammenhang sei dabei statistisch so eindeutig, dass es für ihn als Sozialwissenschaftler Traum und Alptraum zugleich sei. Wegen der hohen Korrelation sei es vor allem aber ein Alptraum. Die Gruppe der Langzeitarbeitslosen gelte als nicht effizient, nicht konkurrenzfähig, nicht auf dem Hochmaß der Verwertbarkeit ihrer Leistung. Das sei die Grundlage für verdeckte Desintegrationsprozesse.

Dass diese Entwicklung keineswegs vom Himmel gefallen ist, sondern von der Politik befeuert wurde, unterstrich der Soziologe mit einem Zitat aus dem Bundesministerium für Wirtschaft, das unter der damaligen Leitung des Sozialdemokraten Clement eine Broschüre mit dem Titel herausgab: “Vorrang für die Anständigen, gegen Missbrauch, Abzocker und Selbstbedienung im Sozialstaat.”

In dieser Broschüre seien Sätze wie dieser zu lesen: “Biologen verwenden für Organismen die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrunsgbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben, übereinstimmend die Bezeichnung Parasiten.” Eine regierungsamtliche Broschüre, stöhnte Heitmeyer. Brutalität, die schon damals offensichtlich als völlig normal wahrgenommen worden sei.

Heitmeyer stützte sich auf internationale Forschungsergebnisse, als er hervorhob, dass die Verringerung von Ungleichheit zentral sei für die Minderung von Gewalt. Die Mordraten in ungleichen Gesellschaften seien zehnmal so hoch wie in gleichen Gesellschaften. Ein wesentliches Moment dabei: Gewalt aus manglender sozialer Anerkennung. Die Vererbung von Armut und sozialer Ausgrenzung und die damit verbundenen Ungerechtigkeitsgefühle seien ein scharfer Treibsatz für Gewalt. Woher sollen denn die jungen Menschen ihre Anerkennung hernehmen, wenn die traditionalen Integrationsformen wie Arbeit und Familie nicht mehr greifen, so eine weitere zentrale Frage Heitmeyers – an die er die bittere Hoffnung knüpfte, dass die Thesen seines Instituts und internationaler Forscher doch noch durch die Wirklichkeit widerlegt würden.

Wenn es nicht gelinge, die “Übergriffe sozialer Rationalitäten in soziale Lebensverhältnisse”, einzuhegen, die Entwicklung einer Marktwirtschaft in eine Marktgesellschaft, die Menschen vordringlich nach ihrer Effizienz, Nützlichkeit und Verwertbarkeit ihrer Leistung kategorisiert und ihre menschliche Existenz damit abwertet, umzukehren und mit ihr die mit jenem Entwicklungsprozess einhergehende “Ungleichwertigkeit” aufzuheben, dann würden sicherlich in nächster Zeit die Kontrollapperate auf Hochtouren gebracht werden müssen, so Heitmeyer, und schaffte schließlich doch noch diesen Zusammenhang positiv auszudrücken: Die Begrenzung von Ungleichheit, die Entwicklung einer Kultur der Anerkennung und die Verhinderung der Übergriffe ökonomischer Rationalität wären Eckpunkte eines größeren Zusammenhalts der Gesellschaft.

“Sind wir in der Lage, radikale Fragen zu stellen?”, fragte Heitmeyer abschließend. Wie einleitend aufgezeigt, sind die einschlägigen Medien nicht einmal in der Lage über die von Heitmeyer aufgezeigten Grundlagen einer zunehmenden Radikalität in unserer Gesellschaft auch nur zu berichten – geschweige denn Fragen zu stellen.

Hier schließlich noch einige “Empirische Landmarken der Ungleichheit”, die Dr. Claus Schäfer vom WSI im Anschluss von Prof. Dr. Heitmeyer ausführte, und mir dankenswerterweise zur Verfügung stellte:

Empirische Landmarken der Ungleichheit – Vortrag C.Schäfer_WSI-Herbstforum 2011


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