Christoph Butterwegge: Regierungsberichte als Erfolgsgeschichte – Kritik an den Armuts- und Reichtumsberichten

Christoph Butterwegge

Den ersten Armuts- und Reichtumsbericht einer Bundesregierung veröffentlichte die rot-grüne Koalition im April 2001. Seither wird regierungsseitig in halbwegs regelmäßigen Abständen dokumentiert, welches Ausmaß die soziale Ungleichheit hierzulande erreicht hat. Fraglich ist, ob die vier bisherigen Regierungsberichte ihre Hauptaufgabe erfüllt haben, eine gute Datenbasis zur sozialen Ungleichheit in Deutschland und sinnvolle Empfehlungen für die Bekämpfung der Armut zu liefern.

Das o.g. Dokument zu den “Lebenslagen in Deutschland” beeindruckte zwar durch seine Datenfülle, enttäuschte aber in konzeptioneller Hinsicht und ließ vor allem klare Aussagen zu den Ursachen der sozialen Polarisierung, zum Reichtum und zur Armutsbekämpfung vermissen. Hinsichtlich seiner Datenbasis ging der Bericht bis 1973 zurück und reichte gewiss nicht zufällig nur bis zum Amtsantritt von Rot-Grün im Herbst 1998, was es der neuen Bundesregierung ermöglichte, darin die Versäumnisse ihrer Amtsvorgängerinnen anzuprangern, ohne selbst für politische Fehler einstehen zu müssen. Obwohl bzw. vielleicht auch gerade weil ihm hauptsächlich eine symbolische Bedeutung zukam, wirkte der Bericht als Fanal, dass Armut in der Bundesrepublik existierte, dass die Regierung dem jahrzehntelang verleugneten Umstand einer sozialen Spaltung endlich Rechnung trug und dass sie dem Problem den Kampf erklärte.

Im zweiten Armuts- und Reichtumsbericht, den die rote-grüne Bundesregierung im März 2005 vorlegte, wurde der Gerechtigkeitsbegriff umgedeutet. Es komme, wurde behauptet, nicht so sehr auf die Umverteilung von materiellen Ressourcen, vielmehr auf die Bereitstellung von “Teilhabe- und Verwirklichungschancen” an. Man rekurrierte auf den Ansatz von Amartya Sen. Dieser indische Ökonom und Nobelpreisträger begreift Armut zwar als Mangel an “Verwirklichungsmöglichkeiten”, ohne jedoch im Geringsten zu bestreiten, dass Letzterer mit der Knappheit materieller Ressourcen bzw. monetärer Mittel (Einkommen und Vermögen) verbunden ist. Um seine “Teilhabe- und Verwirklichungschancen” wahrnehmen zu können, braucht man Finanzmittel, über die Personen kaum verfügen dürften, denen bei der Sozialhilfe wie beim Arbeitslosengeld II zugemutet wurde, mit 1,26 EUR im Monat für Kino- und Theaterbesuche auszukommen.

Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht, im Juli 2008 verabschiedet, wurde zum politischen Zankapfel zwischen den Koalitionspartnern CDU/CSU und SPD. Während der zuständige Fachminister Olaf Scholz (SPD) die Verringerung der Armut durch den Sozialstaat hervorhob, attackierten ihn Unionspolitiker: Da die berücksichtigten Zahlen nur bis zum Jahr 2005 reichten, enthülle der Bericht bloß die schlechte Bilanz der rot-grünen Sozialpolitik, meinte beispielsweise CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla. Inzwischen seien die Arbeitslosigkeit und damit auch die Armut erheblich gesunken, was der Bericht unerwähnt lasse, kritisierte der damalige Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU).

Dass es auch innerhalb der schwarz-gelben Koalition erhebliche Meinungsverschiedenheiten gab, zeigten die Kontroversen um den vierten Armuts- und Reichtumsbericht. Obwohl der Regierungsbericht laut Bundestagsbeschluss jeweils zur Mitte einer Legislaturperiode vorliegen soll, überzog das Sozialministerium den Termin um knapp ein Jahr, bis es im September 2012 einen umstrittenen Entwurf fertig stellte. Noch mal fast ein halbes Jahr dauerte es, bis das Bundeskabinett die überarbeitete, entschärfte und geschönte Endfassung am 6. März 2013 verabschiedete. Passagen zum ausufernden Niedriglohnsektor, zur enormen Lohnspreizung und zur extremen Ungleichheit der Vermögen waren auf Wunsch von Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) im Rahmen der Ressortabstimmung gestrichen bzw. abgeschwächt worden.

Alle vier Regierungsberichte weisen methodische Schwächen, inhaltliche Lücken und Fehlinterpretationen auf. Nach den gesellschaftlichen Ursachen der kaum mehr zu leugnenden Spreizung von Einkommen und Vermögen wird in keinem der bisherigen Armuts- und Reichtumsberichte gefragt. Allenfalls geraten Auslöser individueller Notlagen, etwa Arbeitslosigkeit, Trennung bzw. Scheidung vom (Ehe-)Partner oder (Früh-)Invalidität, ins Blickfeld der Berichterstatter. Umso wichtiger wäre die Beleuchtung struktureller Hintergründe, um persönlichen Schuldzuweisungen keinen Vorschub zu leisten sowie der Verantwortung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gerecht werden zu können.

Armuts- und Reichtumsberichte könnten die Basis für eine bessere Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik der Bundesregierung sein, wenn sie die “Lebenslagen in Deutschland” nüchtern analysieren, die Ursachen für wachsende Ungleichheit ergründen und entsprechende Handlungsempfehlungen geben würden. Solange die jeweilige Bundesregierung solche Berichte indes missbraucht, um ihre Politik dem Wahlvolk als Erfolgsgeschichte zu “verkaufen”, bringen sie höchstens einen geringen Erkenntnisgewinn.

Wer ohne ideologische Scheuklappen durchs Land geht und genau hinschaut, kommt zu einem anderen Ergebnis als die Bundesregierung: Momentan verfestigt sich die Armut und frisst sich in die Mitte der Gesellschaft hinein, ohne von den politischen Entscheidungsträgern wahrgenommen zu werden. Dies gilt etwa für die Altersarmut, der die amtierende Bundesregierung trotz wohlklingender Versprechungen im Koalitionsvertrag bisher aufgrund ihrer Uneinigkeit in zentralen Punkten nicht einmal durch einen kärglichen Rentenzuschuss (“Zuschuss-” bzw. “Lebensleistungsrente”) für Geringverdiener/innen entgegentrat.

CDU, CSU und FDP haben sowohl im Hinblick auf die Armuts- und Reichtumsberichterstattung wie auch im Hinblick auf die Armutsbekämpfung kläglich versagt. Man will den Wohlhabenden nicht wehtun, sondern es Reichen und Superreichen selbst überlassen, ob und wie sie sich für das Gemeinwohl engagieren. Dabei ist vor allem in der Steuerpolitik ein Umsteuern nötig: Erforderlich sind eine im obersten Bereich erheblich progressivere Einkommensteuer, die Rücknahme der steuerlichen Privilegierung von Kapitalerträgen durch die Abgeltungssteuer in Höhe von 25 Prozent, die Wiedererhebung der 1997 ausgesetzten Vermögensteuer und eine Erbschaftsteuer, die auch große Betriebsvermögen erfasst. Schließlich ist es keine Leistung, der Sohn oder die Tochter eines Konzerngründers zu sein!

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt sind seine Bücher „Armut in einem reichen Land“ und „Armut im Alter“ (beide im Campus Verlag) erschienen.

Wirtschaft und Gesellschaft hat jetzt auch eine und freut sich über jedes “Gefällt mir”.


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