EZB: Was versprechen die geldpolitischen Entscheidungen?

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat gestern gleich vier Pressemitteilungen zu ihren geldpolitischen Entscheidungen herausgegeben, neben der Bekanntgabe der Entscheidungen selbst. Es ist vorbildlich, dass die EZB der Erläuterung ihrer Politik soviel Raum gibt. Welche Schritte hat die EZB im einzelnen beschlossen, und wie sind sie zu bewerten?

Hier zunächst die geldpolitischen Entscheidungen aus der Pressemitteilung, die die EZB gestern Mittag herausgab:

  1. Der Zinssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte des Eurosystems wird um 10 Basispunkte auf 0,15 % gesenkt. Dies gilt erstmals für das am 11. Juni 2014 abzuwickelnde Geschäft.
  2. Der Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität wird mit Wirkung vom 11. Juni 2014 um 35 Basispunkte auf 0,40 % gesenkt.
  3. Der Zinssatz für die Einlagefazilität wird mit Wirkung vom 11. Juni 2014 um 10 Basispunkte auf -0,10 % gesenkt. Einzelheiten zur Umsetzung des negativen Zinssatzes für die Einlagefazilität werden heute um 15.30 Uhr MEZ in einer gesonderten Pressemitteilung bekannt gegeben.

Diese geldpolitischen Entscheidungen, das haben wir erst vor wenigen Tagen ausführlich erläutert, sind nicht geeignet, der Deflation entgegenzuwirken. Der Leitzins war auch vor der weiteren Absenkung gestern bereits angemessen (siehe dazu zuletzt hier).

Wie sind aber die darüber hinaus gehenden geldpolitischen Entscheidungen, die die EZB in der oben aufgegriffenen Pressemitteilung noch gar nicht bekannt gab, zu bewerten? Die EZB hat numehr zu einem Instrument gegriffen, auf das das ehemalige Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Claus Köhler, gegenüber Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung bereits am Montag dieser Woche unter Verweis auf die Geldpolitik der englischen Notenbank hingewiesen hat: “Noch mögliche monetäre Maßnahmen haben uns die Briten vorgemacht. Sie gaben den Banken zinsgünstige liquide Mittel – in der EWU vielleicht zu 0,12 Prozent – unter der Bedingung, damit Kredite an die Wirtschaft zu vergeben.”

Diesen Schritt hat die EZB gestern vollzogen. Sie erläuterte dies in einer gesonderten Pressemitteilung. Der Zinssatz liegt allerdings über dem von Köhler empfohlenen. So schreibt die EZB: “Der Zinssatz für die GLRGs (gezielte längerfristige Refinanzierungsgeschäfte, T.H.), der sich aus dem zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme geltenden Zinssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte (HRGs) des Eurosystems zuzüglich eines festen Spreads von 10 Basispunkten zusammensetzt, gilt für die Laufzeit des jeweiligen Geschäfts. Zinsen werden nachträglich gezahlt, wenn der Kredit zurückgezahlt ist.” Das würde aktuell einem Zinssatz von 0,25 Prozent entsprechen.

Dieser Schritt ist insofern zu begrüßen, als dass die EZB damit dem Problem Rechnung trägt, dass es die reale Wirtschaft ist – die außerhalb des Finanzsektors tätigen Unternehmen und die Verbraucher es sind -, die aktiviert werden müssen, damit die wirtschaftliche Aktivität wieder steigt. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, der Deflation zu entkommen.

Dass die EZB selbst dieser außergewöhnlichen Maßnahme wie ihren bisherigen geldpolitischen Entscheidungen nicht so recht traut, wird in diesen Worten Draghis deutlich, die er gestern auf seiner Pressekonferenz erklärte:

“Moreover, if required, we will act swiftly with further monetary policy easing. The Governing Council is unanimous in its commitment to using also unconventional instruments within its mandate should it become necessary to further address risks of too prolonged a period of low inflation.”

(Wenn nötig, werden wir zudem schnell mit weiteren Lockerungen der Geldpolitik reagieren…)

Dass die Skepsis Draghis nur allzu berechtigt ist, wird nicht zuletzt an seinen eigenen Ausführungen zur realen Entwicklung der Wirtschaft deutlich: Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts war mit 0,2 Prozent gegenüber Vorquartal, so Draghi, “etwas schwächer als erwartet” (the outcome was somewhat weaker than expected). Auch für das zweite Quartal würde nur ein “moderates Wachstum” erwartet. Immer noch verspricht sich Draghi Besserung durch die “Strukturreformen”, verweist aber zugleich auf negative Bedingungen, die aber, wie wir bereits häufiger, zuletzt erst gestern, wieder betonten, eben jenen “Strukturreformen” geschuldet sind – was Draghi, nicht anders als die anderen politisch Verantwortlichen, nach wie vor nicht erkennt und anerkennt:

“…unemployment remains high in the euro area and, overall, unutilised capacity continues to be sizeable. Moreover, the annual rate of change of MFI loans to the private sector remained negative in April and the necessary balance sheet adjustments in the public and private sectors are likely to continue to weigh on the pace of the economic recovery.”

(Die Arbeitslosigkeit in der EWU bleibt hoch, insgesamt, erhebliche Kapazitäten bleiben nach wie vor ungenutzt. Darüber hinaus bleibt die Zuwachsrate der Kreditvergabe an die Unternehmen durch die Geldinstitute im April negativ, und die notwendigen Anpassungen des öffentlichen und des privaten Sektors werden die wirtschaftliche Erholung voraussichtlich weiter belasten.)

So schlimm steht es um die Wirtschaftsleistung in der EWU, dass die ohnehin bescheidene Prognose – das ist erstaunlicherweise in den anderen Medien scheinbar untergegangen – für das laufende Jahr nach unten revidiert wurde:

“This assessment of a moderate recovery is also reflected in the June 2014 Eurosystem staff macroeconomic projections for the euro area, which foresee annual real GDP increasing by 1.0% in 2014, 1.7% in 2015 and 1.8% in 2016. Compared with the March 2014 ECB staff macroeconomic projections, the projection for real GDP growth for 2014 has been revised downwards and the projection for 2015 has been revised upwards.”

Die gleichzeitige Anhebung der Prognose für 2015 kann man aufgrund der jahrelangen Erfahrungen mit dieser Vorgehensweise getrost unter den Tisch fallen lassen. So oder so ist das Wachstum völlig ungeeignet, um die Arbeitslosigkeit in einem vertretbaren Zeitraum spürbar zu senken. Unseren Berechnungen zufolge, müsste die Wirtschaft der EWU jährlich um 2,7 Prozent wachsen, um die Arbeitslosigkeit um zwei Prozentpunkte pro Jahr zu senken (siehe dazu ausführlich hier).

Zur Vergrößerung auf Graphik klicken.

Als wäre dies alles noch nicht schlimm genug, sieht Draghi weitere Risiken, darunter geopolitische, aber auch eine schwächere Inlandsnachfrage als erwartet, auf die Wirtschaftsentwicklung der EWU zukommen:

“The risks surrounding the economic outlook for the euro area continue to be on the downside. Geopolitical risks, as well as developments in emerging market economies and global financial markets, may have the potential to affect economic conditions negatively. Other downside risks include weaker than expected domestic demand and insufficient implementation of structural reforms in euro area countries, as well as weaker export growth.”

Dass Draghi das Risiko einer schwächeren Inlandsnachfrage in einem Atemzug mit dem Risiko einer ungenügenden Umsetzung der “Strukturreformen” nennt, zeigt, dass Draghi das Kernproblem der Deflationsgefahr wie der schwachen Konjunktur tatsächlich nicht erfasst hat: die Belastung der Konjunktur durch die “Strukturreformen” (staatliche Ausgabenkürzungen, Lohnsenkungen, Abbau von Arbeitnehmerrechten). Sie sind es, die auch die jüngsten geldpolitischen Maßnahmen der EZB weitgehend ins Leere laufen lassen dürften. Und doch meint Draghi am Ende seines Pressestatements: “However, euro area countries should not unravel progress made with fiscal consolidation.” (Die Euro-Länder sollten den Fortschritt, den die Haushaltskonsolidierung gebracht hat, nicht gefährden.)

Um das von uns berechnete notwendige Wirtschaftswachstum zu finanzieren, haben wir ein notwendiges Kreditwachstum von 9,6 Prozent ausgerechnet (siehe dazu hier). Das bereits oben zitierte ehemalige Mitglied des Sachverständigenrats, Claus Köhler, ist da zurückhaltender: “Mit Ihrer monetären Analyse bin ich grundsätzlich einverstanden. Wenn Sie mit einer anzustrebenden Zuwachsrate von 9,6 % rechnen, dann setzt man sich möglicherweise dem Vorwurf aus, man strebe Zuwachsraten an (10 – 12 %), die zur weltweiten Finanzkrise geführt haben. Ich wäre schon zufrieden, wenn wir 7 % erreichten.”

Diese Skepsis finde ich durchaus nachvollziehbar. Tatsächlich wäre ein Kreditwachstum von 7 Prozent ein enormer Gewinn, angesichts einer negativen Zuwachsrate der Kredite im ersten Quartal von -3,1 Prozent. Die Zuwachsrate der Kredite an die Unternehmen außerhalb des Finanzsektors betrug laut Draghi im April -2,7 Prozent (März: -3,1%).

Draghi sieht die Inflationsrate erst 2016 bei 1,5 Prozent. Damit wäre sie immer noch weit entfernt vom Inflationsziel der EZB, das “unter, aber nahe zwei Prozent” liegt, was man konservativ bei 1,9 Prozent festlegen kann. Die jährliche Inflationsrate im Mai, so Draghi, war mit 0,5 Prozent “niedriger als erwartet” (lower than expected).

Der zentrale Widerspruch, die zentrale Gefahr, ist zusammengefasst die, dass, so richtig und angemessen die Geldpolitik der EZB seit längerem ist, so sehr steht sie im Widerspruch zu ihren wirtschaftspolitischen Empfehlungen, die die Konjunktur in der EWU weiter belasten und damit die Wirksamkeit der Geldpolitik weiter gefährden.

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