SPD-Basis wählt neuen Berliner Bürgermeister – und hätte vielleicht auch einen anderen Parteivorsitzenden gewählt

Es ist gut, dass die Berliner SPD ihre Basis hat abstimmen lassen. Noch korrekter wäre es freilich gewesen, wenn alle Berliner hätten wählen dürfen. So haben die Mitglieder einer Partei den designierten neuen regierenden Bürgermeister Berlins gewählt. Die nächste Wahl des Abgeordnetenhauses wird voraussichtlich 2016 stattfinden. Das Wahlergebnis verrät dann auch mehr über die Berliner SPD, als über die Präferenzen der Berliner. Das allein aber ist interessant genug. Es hat ganz grundsätzliche Bedeutung.

Der große Gewinner der Wahl, Wowereits langer und treuer Weggefährte und Senator für Stadtentwicklung und Umwelt, Michael Müller, zeigte sich selbst überrascht über das eindeutige Wahlergebnis. Alle Vorab-Berichte waren davon ausgegangen, dass es eine Stichwahl geben würde. Müller aber hat seine beiden Mitbewerber, den Vorsitzenden der Berliner SPD, Jan Stöß, und den Vorsitzenden der Berliner SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Raed Saleh, gleich beim ersten Wahlgang auf die Plätze verwiesen. Müller erhielt 59,1 Prozent der Stimmen, Stöß 20,9 und Saleh 18,7 Prozent.

Das dürfte am meisten Stöß selbst überrascht haben, der erst im Juni 2012 zum Vorsitzenden der Berliner SPD gewählt wurde – allerdings nicht von der Basis, sondern von den Deligierten der Partei. Der jetzt durch die SPD-Basis gewählte Müller, der auch für dieses Amt kandidiert hatte, war damals schon für einen Mitgliederentscheid gewesen – Stöß laut Berliner Zeitung nicht. Die Berliner Zeitung sah Müller bei einem Basisvotum bereits 2012 im Vorteil gegenüber Stöß.

Vor diesem Hintergrund kommt dem heutigen Wahlergebnis eine noch größere Bedeutung zu. Das muss man sich einmal vorstellen: Nur rund 20 Prozent der Berliner SPD-Mitglieder wünschen sich ihren Vorsitzenden als regierenden Bürgermeister.

Das kann durchaus als Hinweis dafür gelesen werden, dass Funktionäre wie Stöß und wohl auch Saleh in ihrer eigenen Partei in gänzlich anderen Welten leben als ihre Basis. “Jetzt schlägt die Stunde der Mitglieder und nicht der Funktionäre. Die Parteibasis wird entscheiden”, zitierte der Berliner Tagesspiegel am 30. August dieses Jahres einen Berliner SPD-Kreischef unter der Überschrift: “Warum Michael Müller gute Chancen hat.” Eher in Stöß Welt dürften dagegen Berliner SPD-Bundestagsabgeordnete leben, die sich vor der Wahl öffentlich für Stöß ausgesprochen hatten.

Saleh und Stöß waren mit ihren Kandidaturen für die Nachfolge Wowereits geradezu vorgeprescht. Man kann Mülleres abwartende Haltung und spätere Kandidatur als Taktik interpretieren. Die harten Bandagen aber, mit denen Stöß 2012 bereits nach dem Parteivorsitz gelangt hatte, und die ehrlich überrascht und bescheiden wirkende Reaktion Müllers auf den heutigen Wahlsieg, lassen durchaus auch auf ein unterschiedliches Politikverständnis schließen.

Dafür spricht auch, dass Müller eine klare persönliche und politische Linie vertreten hat, indem er Wowereit durch alle Krisen hindurch unterstützte. Das kann man gut oder schlecht finden. Von Stöß aber wissen wir, dass er sich gern lautstark links geriert, gleichzeitig aber – eben noch Steinbrück-Kritiker – Steinbrück als Kanzlerkandidaten hofiert hat (siehe zum Beispiel dieses Interview). Auch sonst pflegt Stöß den Politsprech und die Biegsamkeit, ohne die der Niedergang der SPD wohl nicht zu verstehen ist (siehe dazu kritisch hier und hier).

So betrachtet hat der Mitgliederentscheid ganz grundsätzlich gezeigt, welch Potenzial in einem Basis-Votum schlummert, und – wird dieses Potenzial erst einmal geweckt -, welche Kluft zwischen Wahlergebnissen durch Deligierte einerseits und durch die Parteibasis andererseits besteht. Das aber kommt anscheinend nur zum Tragen, wenn die Parteibasis vorher zwar – wie beim Berliner Mitgliederentscheid geschehen – durch Veranstaltungen mit den Kandidaten informiert wird, nicht aber – wie zuletzt beim SPD-Mitgliederentscheid zum Koalitionsvertrag der jetzigen Bundesregierung geschehen – solange mit “von oben” hingedrehten Formulierungen beeinflusst wird, dass die Grenzen zwischen Information und Manipulation kaum noch zu erkennen sind. Überträgt man dieses Ergebnis noch auf so gravierende Entscheidungen wie die Agenda 2010 ist dessen Bedeutung gar nicht zu überschätzen: Unter denselben Voraussetzungen wie jetzt beim Berliner Mitgliederentscheid hätten sich die SPD-Funktionäre von Gerhard Schröder bis tief hinein in die untere Funktionärsebene wohl kaum so weit von ihrer Basis entfernt und große Teile von ihr verloren, wie es ohne einen solchen Mitgliederentscheid passiert ist. Und Deutschland wäre heute wohl ein anderes, ein sozialeres Land. Selbst die Eurokrise hätte es dann vielleicht nicht gegeben (siehe dazu hier).

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