Eurokrise: Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin machen ratlos

In der Samstagausgabe der FAZ haben der Philosoph Jürgen Habermas, der Ökonom Peter Bofinger und der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin der Bitte des SPD-Parteichefs Sigmar Gabriel entsprochen, „eine SPD-Europapolitik zu formulieren“. Mit diesen Worten macht Gabriel auf seiner facebook-Seite auf den Beitrag aufmerksam. Immerhin verlinkt er darin eine pdf.-Ausgabe des Artikels, die einem die Lektüre im Internet erlaubt, ohne dafür zahlen zu müssen. Verstehen werden den Beitrag allerdings wohl nur wenige. Dabei soll der „Aufruf“ laut Gabriel die Programmdebatte für die Bundestagswahl 2013 eröffnen.

Der „Normalbürger“ jedoch dürfte sich dazu nicht eingeladen fühlen. Die FAZ stellt dazu treffend fest: „Das Programm soll nicht mehr im „closed-shop“ Verfahren geschrieben werden, sondern im Austausch mit Wissenschaftlern und Intellektuellen.“ Wenn die Programmdebatte also von vornherein nicht auf den Austausch mit dem „Normalbürger“ zielt, sondern auf Wissenschaftler und Intellektuelle, mag der Artikel für die so Angesprochenen vielleicht den richtigen Ton treffen. Dem im Artikel selbst zum Ausdruck gebrachten Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung wird er schon aufgrund seiner Sprache nicht gerecht – die Autoren schreiben in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit „eine marktkonforme Fassadendemokratie“ in eine „sozialstaatliche Bürgerdemokratie“ umzukehren. Bevor wir tiefer in den Text einsteigen, hierzu noch ein Beispiel: „Die Tatsache, dass sich die Krise in den Jahren kopflos inkrementalistischer Behandlungsversuche nur verschärft hat, macht den Mangel an politischer Gestaltungskraft offensichtlich.“ Noch Fragen?

Wie aber sollen sich Bürger sinnvoll und souverän an einer Debatte beteiligen, gar für Europa begeistern, wenn die Debatte nicht in einer allgemeinverständlichen Sprache gehalten ist, die Zusammenhänge, Ursachen und Wirkungen verständlich zu machen weiß?

Hör mir auf: Fiskaldisziplin

Eine wesentliche Aussage des Trios erscheint allerdings unmissverständlich; zumindest verstehe ich sie genauso wie die FAZ, die in ihrer Online-Ankündigung des Artikels zusammenfassend schreibt: „Die drei Wissenschaftler fordern im Kern eine Souveränitätsübertragung auf Europäische Institutionen, um Fiskaldisziplin wirksam durchzusetzen und zudem ein stabiles Finanzsystem zu garantieren.“ Da läuteten bei mir schon die Warnglocken, bevor ich überhaupt erst das ganze Werk vor Augen hatte. Hatte der SPD-Chef doch bereits Tage zuvor eine gemeinsame Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik gefordert. Allerdings wurde noch nicht deutlich, wozu diese denn dienen sollte. Da aber dem SPD-Chef vor nicht allzu langer Zeit die Sparanstrengungen der Kanzlerin immer noch nicht weit genug gingen, was er ebenfalls in einem Gastbeitrag im Feuilleton der FAZ zum Ausdruck brachte, und er erst jüngst verlauten ließ, dass er an der Höhe der Sparanstrengungen der Krisenländer nicht rütteln wolle, war allerdings zu vermuten, dass auch er – wie die Bundesregierung -  auf Fiskaldisziplin zielte.

Im Text der drei Autoren heißt es nun: „Eine Souveränitätsübertragung auf europäische Institutionen ist dafür jedoch unvermeidlich, um Fiskaldisziplin wirksam durchzusetzen und zudem ein stabiles Finanzsystem zu garantieren.“

Als ob dafür noch „eine Souveränitätsübertragung auf Europäische Institutionen“ vonnöten ist. Vielleicht um Fiskaldisziplin auch dann noch „wirksam durchzusetzen“, wenn die nationalen Parlamente schon unter dem Protest der Bevölkerung zu wanken beginnen, wie in Griechenland und in Spanien? Denn wenn eines in den vergangenen Jahren in der Eurozone wirksam durchgesetzt wurde, dann war es Fiskaldisziplin. Auf Teufel komm raus wurden die Krisenländer dazu gezwungen, ihre Staatsausgaben zu senken, Löhne, Gehälter, Renten und andere Sozialleistungen zu kürzen, um die Einnahmen und Ausgaben ihrer Staatshaushalte ins Lot zu bringen. Wenn die Autoren diese Politik und ihre Folgen wiederum kritisieren, ohne die auch von ihnen geforderte Fiskaldisziplin grundsätzlich zu hinterfragen, und sie stattdessen eine „strikte gemeinschaftliche Kontrolle über die nationalen Haushalte“ fordern, können sie bestenfalls nur Verwirrung stiften. Wir kommen darauf weiter unten noch zurück.

Zunächst jedoch zur letzten der im oben zitierten Satz geäußerten Forderungen, „ein stabiles Finanzsystem zu garantieren.“ Dazu ist im Text der Autoren nicht mehr zu finden als dies:

„Die erforderlichen Maßnahmen zu einer Re-Regulierung liegen auf der Hand. Aber sie kommen nicht zum Zuge, weil einerseits eine Implementierung dieser Maßnahmen im nationalstaatlichen Rahmen kontraproduktive Folgen hätte, und andererseits die 2008 auf dem ersten Londoner G-20-Gipfel beschlossenen Regulierungsabsichten ein weltweit koordiniertes Handeln erfordern würden, das einstweilen an der politischen Fragmentierung der Staatengemeinschaft scheitert.“

Erneut müssen sich Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin die Frage gefallen lassen, welcher Leser, und sei es auch ein noch so kluger Kopf, der seine Nase in die FAZ steckt, das verstehen soll. Hätten die drei Autoren die Satzzeichen, die sie für den „Londoner G-20-Gipfel“ und „Regulierungsabsichten“ und „erforderliche Maßnahmen“ verwenden, nicht besser für die Nennung zwei, drei konkreter Maßnahmen nutzen sollen, denen der Leser hätte folgen können? Den Verweis auf den Londoner G-20-Gipfel 2008 hat wiederum vor einigen Tagen erst der SPD-Chef im Mund geführt und damit seinen Genossen und ehemaligen Finanzminister Peer Steinbrück versucht ins rechte Licht zu rücken. Was ist das für eine Wissenschaft, die sich zu so etwas hergibt? Hätte zu einer ehrlichen Eröffnung einer Programmdebatte nicht viel eher ein kurzer Rückblick auf die jüngere Geschichte gehört, die die angestrebte  „Re-Regulierung“ erklären hilft? Bei der Bundesregierung gelingt den Autoren dies doch auch, warum nicht bei der SPD, der sie doch helfen sollen zu debattieren?

Hier dazu in aller Kürze etwas Nachhilfe, ohne die die SPD schwerlich die Gegenwart begreifen und die Zukunft glaubhaft gestalten können wird, und ohne die eine ehrliche Debatte, die ihren Namen auch verdient, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist: Die SPD hat die Finanzsysteme in ihrer Regierungszeit unter Federführung des damaligen Finanzministers Peer Steinbrück begeistert dereguliert und damit maßgeblich zu deren Destabilisierung beigetragen. Das ging ganz ohne Souveränitätsübertragung. Was liegt also zunächst näher, um einmal eine grundlegend andere Perspektive anzudeuten, als zu fordern, die von ihr zur Finanzmarktderegulierung entworfenen und verabschiedeten Gesetze zurückzunehmen? Der neue französische Premier Francois Hollande unternimmt derzeit nichts anderes, nicht nur in der Finanzpolitik, auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik – und setzt damit nur um, was er in der Opposition und im Wahlkampf versprochen hat. Viele Menschen haben das offensichtlich verstanden und unterstützen ihn darin. Es geht unter anderem um eine gerechtere Besteuerung, auch um die Besteuerung von Börsenumsätzen, eine Verringerung des Lohnabstands zwischen mit Millionengehältern versorgten Managern und darbenden Durchschnittsverdienern, die Rente mit 60 (!), die Rücknahme der Entscheidung für eine höhere Mehrwertsteuer, die vor allem Menschen mit geringem Einkommen und damit auch die Binnenkonjunktur belastet hätte. Da merken die Menschen ganz konkret: es geht um sie. Die Worte Menschen, Arbeitslose, Rentner, Jugend, Lohn, Löhne, Arbeitsplätze tauchen übrigens im Beitrag von Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin nicht ein einziges Mal auf. Das Wort Arbeitslosigkeit wird  immerhin zwei Mal erwähnt.

Die Einschnitte, die Hollandes konservativer Amtsvorgänger vorgenommen hatte, sind dabei längst nicht so radikal gewesen, wie die unter der Agenda 2010 und den Jahren danach den Menschen in Deutschland oktroyierten. Anstatt Hollandes Bemühungen um eine sozialstaatliche und ökonomisch abgesicherte Alternative aufzugreifen und zu unterstützen, wischen Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin solch Gestaltungsversuche mit der altbekannten Behauptung vom Tisch, dass „eine Implementierung dieser Maßnahmen im nationalstaatlichen Rahmen kontraproduktive Folgen hätte“. Genau das aber hat schon in der Vergangenheit immer wieder zu dem von den Autoren an anderer Stelle beklagten „Mangel an politischer Gestaltungskraft“ geführt.

Dass Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin die Fiskaldisziplin und die ihr entsprechende Konsolidierungspolitik, die im Wesentlichen auf Ausgabenkürzungen zielt, nicht grundsätzlich in Frage stellen, sondern vielmehr bestrebt sind, alles in deren Dienst zu stellen, zeigt auch dieser Satz:

„Steigende Zinsen für Staatsanleihen, aber auch die immer schlechtere wirtschaftliche Lage erschweren wiederum die ohnehin nicht einfachen Konsolidierungsprozesse.“

Aus ihrer Sicht folgerichtig ist es dann auch nicht die Konsolidierungspolitik selbst, die gescheitert ist, sondern, „dass die Krisenbewältigungsstrategien nicht über die Schwelle einer Vertiefung der Europäischen Institutionen hinausgegangen sind.“ Müsste man den Satz oben aber nicht geradezu umkehren? Die Konsolidierungsprozesse sorgen für eine immer schlechtere wirtschaftliche Lage und für steigende Zinsen für Staatsanleihen! Was hilft dagegen eine „Vertiefung der Europäischen Institutionen“, wenn diese doch nur weiter in die falsche Richtung zielen? Die Autoren aber schreiben: „Tatsächlich ist es den Problemländern trotz einer im internationalen Vergleich ungewöhnlich strengen Sparpolitik und vielfältigen Strukturreformen bisher nicht gelungen, ihre Refinanzierungskosten auf ein erträgliches Maß zu beschränken.“ Müsste es aber nicht „wegen“ statt „trotz“ heißen?

Weiter heißt es dann: „Die Tatsache, dass sich die Krise in den Jahren kopflos inkrementalistischer Behandlungsversuche nur verschärft hat, macht den Mangel an politischer Gestaltungskraft offensichtlich.“

Die immer neuen und zusätzlichen (inkrementalistischen) Behandlungsversuche zeigen doch aber, dass es gerade nicht an politischer Gestaltungskraft bzw. Gestaltungsmöglichkeiten mangelt. Die „Behandlungsversuche“ selbst aber sind falsch und die Versuchskaninchen, die Krisenländer, drohen durch sie vor die Hunde zu gehen und mit ihnen die gemeinsame europäische Währung.

Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin schreiben darüber hinaus: „Zugleich bedarf es einer stärkeren Koordinierung von Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitiken der Mitgliedsländer mit dem Ziel, die strukturellen Ungleichgewichte im gemeinsamen Währungsraum auszugleichen.“

Was aber sind das für „strukturelle Ungleichgewichte“? Das erfährt der Leser nicht. Meinen Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin damit, dass alle Länder ihren Sozialstaat so „reformieren“, also Leistungen kürzen sollen, wie in Deutschland seit der Agenda 2010? Warum müssen selbst Wissenschaftler von diesem Rang mit solch begrifflichen Nebelkerzen werfen? Das ist wirklich erschreckend – wenn auch vor dem Hintergrund der Politik und der sie beratenden Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften in Deutschland leider nicht überraschend.

Noch einmal: Sollte die SPD, für die dieser Vorschlag ja verfasst wurde, nicht lieber den französischen Präsidenten Hollande darin unterstützen, dem Sozialstaat wieder zu seinem Recht zu verhelfen und die „Strukturreformen“, die sozialen Kürzungen in Deutschland wieder zurücknehmen und damit mutig für ein soziales und ökonomisch fortschrittliches Europa vorangehen? Bei dem sprachlichen und analytischen Durcheinander von Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin kann einem jedenfalls nur davor grauen, dass ihm auf gesamteuropäischer Ebene zur Souveränität verholfen wird. Doch es kommt noch schlimmer.

Hör mir auf: Eine Refinanzierungskrise einzelner Staaten

Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin unterstellen der Bundesregierung doch tatsächlich, dass die von ihr in Europa durchgesetzte Strategie „auf einer falschen Diagnose beruht“. Da wäre zunächst einmal anzumerken, dass die SPD die Bundesregierung dabei immer voll und ganz unterstützt und bis heute keine alternative Strategie vorgelegt hat. Eine noch größere Fehldiagnose ist es freilich, wenn die drei der Bundesregierung unterstellen, ihre Fehldiagnose bestünde darin, dass sie meint, sie habe es mit einer „Eurokrise“ zu tun. Dabei, so Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin, handele es sich doch um „eine Refinanzierungskrise einzelner Staaten des Euroraumes.“ Das aber würden Merkel, Schäuble, Rösler und Seehofer sofort unterschreiben. Sie sind – wie der ehemalige Finanzminister und jetzige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück – nie von einer Eurokrise ausgegangen, sondern immer von einer Refinanzierungskrise einzelner Staaten. Dieses Verständnis der Krise erklärt ja gerade die bisherigen „Behandlungsversuche“. Guten Morgen, die Herren Philosophen, Ökonomen und Kulturwissenschaftler! Dann aber fangen die drei an die „strenge Sparpolitik“ und „vielfältigen Strukturreformen“ so richtig zu kritisieren. Sie schreiben von „systemischen Problemen“, ohne zu nennen, welche dies sind. Ihre „systemische Antwort“ lässt allerdings nur den Schluss zu, dass die drei diese „systemischen Probleme“ ihrerseits in der Haushalts- bzw. Fiskalpolitik sehen:

„Nur durch eine gemeinschaftliche Haftung für Staatsanleihen des Euroraums kann das für die derzeitige Instabilität der Finanzmärkte konstitutive individuelle Insolvenzrisiko eines Landes beseitigt oder zumindest begrenzt werden. Die Bedenken, dass damit Fehlanreize gesetzt werden könnten, sind allerdings sehr ernst zu nehmen. Ihnen kann nur dadurch Rechnung getragen werden, dass die gemeinschaftliche Haftung mit einer strikten gemeinschaftlichen Kontrolle über die nationalen Haushalte einhergeht. Allein das für eine Gemeinschaftshaftung erforderliche Maß an fiskalischer Kontrolle wird nicht mehr im Rahmen der nationalen Souveränität über vertraglich vereinbarte Regeln zu realisieren sein.“

Wie kann es aber dazu kommen, dass die Autoren und, auch wenn es die drei nicht wahrhaben wollen, die Bundesregierung meinen, dass wir es nicht mit einer Eurokrise zu tun hätten? Nun, das zeigt der Text ganz vortrefflich: Mit keinem Wort wird darin nämlich die ökonomische Grundvoraussetzung für das Gelingen einer Währungsunion genannt. Die ökonomische Grundvoraussetzung jeder Währungsunion muss eine einheitliche Inflationsrate sein. Für die Eurozone sind zwei Prozent als gemeinsames Inflationsziel festgelegt worden. Es ist mittlerweile bekannt, dass Deutschland dieses Ziel fortlaufend unterschritten hat und andere Länder dieses Ziel überschritten haben. Lediglich Frankreich und Finnland haben das Inflationsziel von zwei Prozent über die Jahre eingehalten. Deutschland ist dadurch billiger, die anderen Länder sind dadurch teurer geworden. Die Kluft, die sich so in der Wettbewerbsfähigkeit aufgetan hat, musste zu steigenden Leistungsbilanzüberschüssen auf der einen Seite, hier vor allem Deutschlands, und Leistungsbilanzdefiziten auf der anderen Seite führen. Die innerhalb der Eurozone erzielten Überschüsse der einen, entsprechen dabei den Defiziten und steigenden Schulden der anderen. Das aber kann auf Dauer keine Währungsunion aushalten. Zu meinen, wir hätten es nicht mit einer Eurokrise zu tun, weil sich der Euro „als stabile Währung erwiesen“ hat, wie Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin betonen, ist genauso falsch, wie zu meinen, wir hätten es nicht mit einer Eurokrise zu tun, weil die Leistungsbilanz der Eurozone insgesamt doch schließlich ausgeglichen sei oder die durchschnittliche Inflationsrate der Eurozone insgesamt doch bei zwei Prozent liege.

Dagegen hilft auch nicht der seit langem vom Sachverständigenrat, zu dem auch Bofinger gehört, und nun auch im Artikel von Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin präferierte Schuldentilgungsfonds. Denn unter den genannten Bedingungen weit auseinander gelaufener Wettbewerbsfähigkeit werden sich die Schulden erneut ausweiten. Helfen kann allein ein Ausgleich der über die Jahre summierten nationalen Wettbewerbsunterschiede. Dies geschieht momentan einseitig zu Lasten der in ihrer Wettbewerbsfähigkeit vor allem gegenüber Deutschland zurückgefallenen Krisenländer, indem diese zu einer deflationären Politik gezwungen werden: Über Lohnsenkungen, Entlassungen und soziale Kürzungen soll die preisliche Wettbewerbsfähigkeit wieder hergestellt werden. Das aber hat nicht nur zur Folge, dass dem Staat aufgrund des darüber verursachten Einbruchs in der Wirtschaftsaktivität die Einnahmen wegbrechen und er sich am Ende noch immer mit einem höheren Haushaltsdefizit und höheren Staatsschulden konfrontiert sieht; den Unternehmen selbst fehlen die Absatzaussichten und die finanzielle Manövriermasse, um zu investieren und so tatsächlich produktiver und wettbewerbsfähiger zu werden.

Vor diesem Hintergrund ist auch diese Aussage von Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin zwar vornehm ausgedrückt, aber nicht korrekt bzw. dreiste Geschichtsklitterung:

„Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus konnte eine vom avanciertesten Sektor, den Banken, ausgelöste Krise nur noch in der Weise aufgefangen werden, dass die Regierungen ihre Bürger in der Rolle von Steuerzahlern für den eingetretenen Schaden aufkommen lassen.“

Dass der Bankensektor so agieren konnte, wie er es tat und mit leichten Einschränkungen weiterhin tut, haben ihm Gesetze erlaubt, die die Politik –  zum größten Teil unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung – für den Finanzsektor verabschiedet hat, bzw. hat die Politik die Banken und andere Finanzinstitute förmlich dazu eingeladen, zu spekulieren. Das ging soweit, dass die Regierung Mitarbeiter dieser Finanzinstitute in den zuständigen Ministerien beschäftigte und deren Ober-Guru, Josef Ackermann, seinen Geburtstag im Kanzleramt feiern ließ. Dass es, wie in dem Satz oben dargestellt, alternativlos war, die Banken so zu retten, wie es der bis 2009 amtierende Finanzminister Peer Steinbrück zu verantworten hat, ist mehr als fraglich.

„Wir plädieren dafür, nichts zu verschleiern“, heißt es in dem Beitrag von Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin. Sie verschleiern aber den Kern der Eurokrise, indem sie das Problem der Wettbewerbsfähigkeit und der dieser zugrundeliegenden Entwicklung verschweigen.

Das zu thematisieren hätte freilich gravierende Auswirkungen auf die deutsche Politik. Denn entscheidend für die deutsche Unterschreitung des Inflationsziels sind die hinter die Produktivitäts- und Preisentwicklung zurückgefallenen Löhne in der Gesamtwirtschaft. Das zu debattieren hieße aber unweigerlich auch die Politik der Agenda 2010 und den von ihr ausgehenden und nach wie vor anhaltenden Druck auf Löhne, Renten und soziale Leistungen und schließlich auch auf die Wettbewerbsfähigkeit der anderen Länder in der Eurozone zu hinterfragen. Das wäre nun in der Tat auch mit Blick auf Europa und die neue Politik Frankreichs eine SPD-Programmdebatte wert.

Europa droht auch bei der Verwirklichung der Vorschläge von Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin ein elitäres Projekt zu bleiben

Anstatt diesen ökonomischen und sozialen Ursachen auf den Grund zu gehen oder sie auch nur zu nennen und zur Diskussion zu stellen, flüchten Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin in die Welt der Institutionen. Aber auch „eine Vertiefung der Institutionen“, wie sie die Autoren vorschlagen, kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie die ökonomischen Ursachen der Eurokrise in Angriff nimmt. Und selbst, wenn „das Bundesverfassungsgericht den politischen Parteien mit der Anordnung eines verfassungsändernden Plebiszits die Initiative abnimmt“, wie Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin schreiben: Können Gesellschaften mit über 20 Prozent Arbeitslosigkeit und über 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, mit Menschen, die bei ins Bodenlose fallenden Löhnen um ihre nackte Existenz bangen müssen, in denen Millionen mit Hartz IV und Armutsrenten auskommen müssen, in denen verzweifelte Eltern sich mit ihren Kindern tagtäglich in „Tafeln“ einreihen, um ihren Hunger zu stillen, und in denen immer mehr Menschen vom gesellschaftlichen Leben weitgehend ausgeschlossen sind, wirklich frei und souverän entscheiden? Weder können sich die meisten von ihnen eine Zeitung wie die FAZ leisten, um sich zu informieren, noch ermöglicht vielen unser Bildungssystem das nötige Rüstzeug, um Intellektuellen wie Habermas, Bofinger und Rümelin gedanklich zu folgen, die sich wiederum auch gar nicht erst bemühen, diesen Menschen eine Perspektive aufzuzeigen oder auch nur deren Lebenswelten, deren Alltag zu thematisieren. So muss Europa ein elitäres, bevormundendes Projekt bleiben. Apropos Elite: Ob der Beitrag von Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin wohl im Feuilleton der FAZ veröffentlicht worden wäre, ohne deren Namen? Das alles sind fürwahr keine guten Aussichten für ein menschliches, friedliches, soziales und ökonomisch handlungsfähiges Europa.

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