Jakob Augstein: Im Zweifel euphorisch

Na, man könnte ja fast meinen, dass Jakob Augstein sich als Autor beim Vorwärts bewerben möchte; für spd.de wäre selbst er immer noch zu kritisch. So schlecht wird es aber hoffentlich nicht um den Freitag bestellt sein. “Ein Loblied auf Steinbrück, ausnahmsweise“, überschreibt der Herausgeber der Wochenzeitung seine aktuelle Spiegel-Kolumne, die “Im Zweifel links” heißt. Diesmal aber ist Augstein im Zweifel euphorisch.

Augstein über Merkel(wahl)plakativ aber nicht überzeugend

Doch beginnen wir mit dem, was Augstein über die derzeitige Bundeskanzlerin in derselben Kolumne zu sagen hat:

“Merkel ist eine Meisterin der Macht. Aber sie ist eine Frau ohne Überzeugung. Merkel blickt mit kaltem Blick auf die Welt. Die europäische Einigung ist für sie nicht mehr als eine komplizierte Gleichung aus dem Reich der politischen Thermodynamik. Und gesellschaftliche Gerechtigkeit ist ihr kein Maßstab politischen Handelns, sondern eine disponible Variable in einem System voller Abhängigkeiten.

Die Abwesenheit jeder Überzeugung ist Merkels größte Schwäche. Denn Politik ohne Überzeugung ist Verwaltung. Aber Verwaltung bedeutet keineswegs den Sieg der Vernunft, sondern den Sieg der stärksten Interessen. Das aber sind die Interessen des Kapitals.”

Merkel ist überzeugt, das Richtige zu tun – das ist ja gerade das Problem

Ich hätte da meine großen Zweifel, dass Merkel eine Frau ohne Überzeugungen ist. Und auch bei den sich daran anschließenden Sätzen sind Augstein wohl etwas die geistigen Zügel entglitten. Ist es nüchtern betrachte nicht viel eher so, dass Merkel wegen ihrer Überzeugung – die ich nicht teile – der Weg zu mehr gesellschaftlicher Gerechtigkeit versperrt ist. Was aber ist ihre Überzeugung? Dieser Frage geht Augstein gar nicht nach. Merkel baut auf “die Wirtschaft”, sie baut auf Wettbewerbsfähigkeitgewinne auf Basis einer zerstörten Tariflandschaft, sinkender “Lohnnebenkosten”, die der Spiegel einer steigenden Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme sind, sie läuft den Entwicklungen hinterher und ja, sie zeigt sich dabei blind gegenüber den sozialen Härten, ja der sozialen Katastrophe, die ihre Politik in den Krisenländern der Eurozone, aber auch hierzulande nach sich zieht. Das aber kann in der Regel nur jemand, der in ungesunder Weise davon überzeugt ist, das richtige zu tun.

Bis auf dieses Merkmal, das der Überzeugung, dem Augstein nicht auf den Grund gegangen ist, weil er zusehr damit beschäftigt war, Merkel als kalte Physikerin der Macht zu zeichnen und damit doch nur ein längst bekanntes plakatives Bild der Kanzlerin kopierte, können alle Merkmale, die Augstein Merkel zuweist, auch seinem neuen politischen Helden Steinbrück zugewiesen werden.

Auch Steinbrück ist ein Meister der Macht

Auch Steinbrück muss ein Meister der Macht sein: Obwohl er wie schon in seiner Verantwortung als Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen 2005 mit der Bundestagswahl 2009 eine historische Wahlniederlage einstecken musste, tummelt er sich ganz oben in der SPD und hat es jetzt gar zum Kanzlerkandidaten gebracht. Die “stärksten Interessen”, “die Interessen des Kapitals” hat in der Geschichte der Bundesrepublik, sieht man einmal von Gerhard Schröder und Wolfgang Clement ab, wohl kaum ein anderer Sozialdemokrat so konsequent bedient wie Steinbrück. Auch wenn Merkel Ackermann seinen Geburtstag im Kanzleramt feiern ließ, die Kapitalmärkte hat Steinbrück dereguliert, und noch heute feiert Steinbrück die Politik der Agenda 2010, was die gleiche soziale Kälte voraussetzt, die auch Merkel zu eigen sein scheint.

“Gesellschaftliche Gerechtigkeit” war auch für Steinbrück bisher kein Maßstab politischen Handelns – und ist sie ihm nicht auch jetzt lediglich “eine disponible Variable in einem System voller Abhängigkeiten”?

Vieles spricht dafür.

Augstein zitiert aus Steinbrücks Rede, die er feiert:

“Die Fliehkräfte in dieser Gesellschaft nehmen zu: durch eine wachsende Kluft in der Vermögens- und Einkommensverteilung, durch unterschiedliche Startchancen von Kindern aus materiell besser gestellten Etagen unserer Gesellschaft und Kindern aus bildungsferneren Schichten, durch die Spaltung des Arbeitsmarktes, weil die Zahl der unsicheren und unterbezahlten Jobs zunimmt, und auch durch finanziell marode Kommunen, die ihre sozialen Brennpunkte nicht mehr in den Griff kriegen, weil ihnen das Geld dafür fehlt.”

Vorangstellt hatte Steinbrück diesen Sätzen – im selben Absatz der Rede – aber, und das lässt Augstein sträflicherweise aus:

“Die Fliehkräfte in dieser Gesellschaft´: Diesen Begriff habe ich in der Tat bei einer anderen Nominierungsrede das erste Mal gebraucht, nämlich im November 2002 auf einem Parteitag, bei dem es um die Nominierung für die Wahl zum nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten ging. Ich bleibe bei diesem Begriff:”

Wenn Steinbrück aber die Fliehkräfte der Gesellschaft schon 2002 erkannt haben will, warum hat er dann nichts gegen sie unternommen, zumindest in seiner Verantwortung als Bundesfinanzminister der Bundesrepublik Deutschland von 2005 bis 2009, als sich jene Fliehkräfte aufgrund der von ihm in seiner Rede erneut verteidigten Agenda 2010 noch einmal gewaltig verstärkt hatten? Weil er wie die Kanzlerin auf “die Wirtschaft” gebaut hat, auf Wettbewerbsfähigkeitgewinne basierend auf einer zerstörten Tariflandschaft und sinkenden “Lohnnebenkosten”, die der Spiegel einer steigenden Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme sind; auch er ist den Entwicklungen als Bundesfinanzminister hinterher gelaufen und hat sich dabei blind gegenüber den sozialen Härten, ja den sozialen Katastrophen gezeigt.

Zurecht kritisiert Augstein die fehlende Selbstkritik Steinbrücks in seiner Rede. Wie kann er ihm dann aber den Gesinnungswandel einfach so abkaufen, indem er schreibt:

“Um die Interessen der Vielen gegenüber den Interessen der Wenigen zu schützen, braucht es eines starken politischen Willens. Nach Hannover kann man sich vorstellen, dass Peer Steinbrück diesen Willen hat.”

Diese Frage beantwortet Augstein selbst im Anschluss an die zuletzt zitierte Passage:

“Wer den Wunsch hegt, es möge ein Ende haben mit dieser Bundesregierung, der muss Peer Steinbrück wählen. Alles andere kommt später.”

Insofern hätte Augsteins Kolumne auch: “Im Zweifel verzweifelt” heißen können. Und es ist ja durchaus ein rationaler Kern darin, der allerdings auf der bis heute nicht begründeten Hoffnung ruht, dass “alles andere” dann auch wirklich später kommt. Die meisten Kommentare unter der Kolumne Augsteins hegen daran erhebliche Zweifel, zurückhaltend formuliert. Es wird schwer werden, selbst wenn es Leuten wie Augstein und gelänge, eine Art Kampagne für die SPD, genauer, für einen Politikwechsel, zu initiieren – was ich nachvollziehbar und ehrenwert finde -, die offensichtlich immer noch tief getroffenen und verunsicherten Wähler für die SPD zurückzugewinnen. Nur einer könnte diese Zweifel ausräumen: Steinbrück selbst. Mit seiner Rede auf dem zurückliegenden Bundesparteitag ist ihm das jedenfalls nicht gelungen – sieht man einmal von Augstein und den SPD-Delegierten ab.

Vielleicht hat sich Augstein das ja aber auch alles nur als Satire gedacht. Das glaube ich aber nicht. Dafür hätte er dann auch noch die ein oder andere Schippe drauf legen müssen.

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