SPD: Politische Demenz und Demobilisierung

Demenz ist ein großes Thema in der Medizin. Zurecht. Werden die Menschen doch immer älter. Ein hohes Lebensalter gilt als Hauptrisikofaktor der Demenz. Immer älter werden auch die Parteien. Die älteste ist in Deutschland die SPD. Sie feiert just in diesem Jahr ihren 150. Geburstag. Lassen wir an dieser Stelle einmal dahin gestellt, was “die alte Tante” denn zu feiern hat. Höchste Zeit aber wird es, das hat die gestern im Deutschen Bundestag von der SPD angestoßene Debatte um die Leiharbeit ein weiteres Mal unterstrichen, auch die Parteien auf Demenz zu untersuchen. Ich plädiere in diesem Fall für die Einführung des Begriffs politische Demenz. Ohne Diagnose keine Heilung.

“Bevor Sie nicht die rechtlichen Grundlagen auf dem Arbeitsmarkt verändern, brauchen wir uns hier nicht weiter zu echauffieren”, schloss Klaus Barthel, SPD-Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD, seine gestrige Rede zur Aktuellen Stunde “Zur Haltung der Bundesregierung zum Missbrauch von Leiharbeit im Lichte der Berichte über Vorfälle bei Amazon“, die auf Verlangen der Fraktion der SPD abgehalten wurde.

Außer Klaus Barthel haben noch die SPD-Bundestagsabgeordneten Annette Kramme, Michael Roth und Gabriel Lösekrug-Möller geredet.

Das erstaunliche: Keine(r) von ihnen erwähnt die Arbeitsmarktreformen, die die rot-grüne Bundesregierung initiiert und in Gesetz gegossen, also zu verantworten hat, auch nur mit einer Silbe. Zeichnen doch aber Hartz I und Hartz IV für die Auswüchse wie die massive Ausweitung der Leiharbeit überhaupt verantwortlich. Das gilt im übrigen auch für die Redner/innen von Bündnis 90 / Die Grünen. Beantragt haben die Aktuelle Stunde aber nun einmal die Sozialdemokraten, die damals ja auch den Kanzler, der die Richtlinien der Politik bestimmt, stellten. Viel spannender als es der Titel der aktuellen Stunde vorgibt ist es dann auch, die “Haltung der SPD zum Missbrauch von Leiharbeit…” zu beobachten, als die der Bundesregierung. Allein der Titel der Aktuellen Stunde, den die SPD gewählt hat, nährt schon den Verdacht auf politische Demenz. Die Reden der genannten Abgeordneten schließlich liefern einen eindeutigen Befund: Politische Demenz im fortgeschrittenen Stadium.

Wir beschränken uns hier darauf, kurz Annette Kramme wiederzugeben, die die Aktuelle Stunde einleitete:

“…Da sind unglaubliche Vorgänge passiert. Bei der Anwerbung sind die Menschen davon ausgegangen, dass sie einen anderen Vertragspartner haben, als es dann tatsächlich der Fall war: Statt Amazon war es eine Leiharbeitsfirma. Die Löhne haben sich als niedriger als erwartet herausgestellt: Statt 9,68 Euro immerhin 12 Prozent weniger, 8,52 Euro. Tagelang wurde bei einzelnen Leiharbeitnehmern der Arbeitsantritt hinausgezögert, um entsprechend dem Arbeitsanfall bei Amazon agieren zu können. Überhaupt war ganz viel Warten bei den Leiharbeitnehmern angesagt: Warten auf den Bus, der sie zur Firma gebracht hat bzw. wieder zurück zur Unterkunft; Warten, wenn keine Arbeit da war…”

Schon in dieser kurzen Passage lassen sich gleich mehrere bemerkenswerte Dinge diagnostizieren:

Warum hält Annette Kramme Vorgänge für unglaublich, für die sie die gesetzliche Grundlage mit geschaffen hat? Für Hartz I gab es zwar keine namentliche Abstimmung, außer zur Ablehnung der Entscheidung des Bundesrates. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat sie jedoch Hartz I – genauso wie Hartz II, Hartz III und Hartz IV in namentlicher Abstimmung – zugestimmt (natürlich teils mit der gewohnten Gewissensberuhigung in Form einer Erklärung nach § 31 GO; vergleiche hierzu: Die Gedächtnislücke – wie Politiker im Bundestag abstimmen und wie sie sich nach außen darstellen und Teilprivatisierung der Rente / SPD: Sie haben alle dafür gestimmt).

Und: Was regt sich Annette Kramme über einen Mindestlohn von 8,52 bei Amazon auf, wenn sie und ihre Partei doch gemeinsam mit dem DGB für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von lediglich 8,50 streiten? So weit ist die politische Demenz an dieser Stelle schon fortgeschritten, dass sie noch nicht einmal die unmittelbare Gegenwart erinnert bzw. wahrnimmt.

Muss es uns nicht große Sorge bereiten, wenn eine Partei und ihre Politiker, die uns und unsere Interessen vertreten sollen und die sich noch dazu anschicken, die Bundesregierung zu stellen, ganz offensichtlich nicht ganz bei Sinnen sind?

Nehmen wir uns einen weiteren schwer von politischer Demenz heimgesuchten SPD-Bundestagsabgeordneten, Hubertus Heil.

Hubertus Heil findet es im Interview mit dem Deutschlandfunk einen “handfesten Skandal”, was da bei Amazon passiert ist: “Wenn da Menschen ausgebeutet werden, wenn die Not von Menschen aus anderen Teilen Europas ausgenutzt wird, und zwar schamlos, wenn Menschen bespitzelt werden, wenn Arbeitnehmerrechte mit Füßen getreten werden, dann ist das nicht zu tolerieren. Das muss aufgeklärt werden, da muss es Konsequenzen geben. Ich befürchte nur, dass dieser Einzelfall nur die Spitze des Eisberges ist, wenn wir über den Missbrauch von Leiharbeit in Deutschland reden.” Und: “Leiharbeit ist auf breiter Front zu einem Instrument von Lohndrückerei geworden…”

Zum Glück ist der Moderator auf Zack. Einfühlsam, geradezu thearpeutisch fragt er Hubertus Heil: “Tut es Ihnen im Nachhinein doch leid, Herr Heil, dass ja die SPD selbst vor ungefähr zehn Jahren das alles vereinfacht hat und auch die Dauer der Leiharbeit erweitert hat?”

Und doch schafft er es nur ansatzweise, Hubertus Heil aus der politischen Umnachtung zu befreien:

“Wir haben tatsächlich versucht, damals die Leiharbeit aus der Schmuddelecke zu holen, wie man damals sagte. Aber es gibt Fehlentwicklungen. Wenn man die erkennt – und wir haben die vor einigen Jahren erkannt -, dann muss man gegensteuern.”

So ein Guter, der Hubertus Heil. Die SPD hat also versucht, die Leiharbeit aus der Schmuddelecke zu holen, indem sie ihr Tür und Tor, indem sie sie buchstäblich salonfähig machte. Auch dies ein schwerer Fall von politischer Demenz.

Hubertus Heil weiß auch: “Übrigens am Ende des Tages fällt das der gesamten Gemeinschaft der Steuerzahler und Sozialversicherungszahler auf die Füße, weil oftmals Menschen da so schlecht bezahlt werden, dass sie sich ergänzendes Arbeitslosengeld II vom Amt abholen müssen, in jedem Fall schlechte Anwartschaften für die Rente haben, die dann von der Grundsicherung abgedeckt werden müssen. Das heißt, diese prekäre Arbeit nützt einigen, die Menschen ausbeuten, aber sie schadet der Gemeinschaft der Steuerzahler, und deshalb müssen wir das ändern.”

Daran aber, dass das alles die SPD zu verantworten hat, kann er sich nicht erinnern; denn wenn er es täte, wäre er natürlich – nur seinem Gewissen verpflichtet – der Erste, der darauf in diesem Zusammenhang hinweisen würde.

Der Moderator des Deutschlandfunks versucht noch einmal, die Erinnerungen bei Hubertus Heil hervorzuholen:

“Sie haben die Leiharbeit mal verteidigt vor zehn Jahren in dieser Zeit. Damals hieß es bei der SPD, sozial ist, was Arbeit schafft. Gilt das nicht mehr bei der Leiharbeit?”

Hubertus Heil: “Noch mal: Bei der Leiharbeit haben wir solche Fehlentwicklungen erlebt und man muss aus Fehlentwicklungen auch lernen und Dinge korrigieren. Ich sage nicht, sozial ist, was Arbeit schafft, sondern sozial ist, was Arbeit schafft, von der Menschen auch leben können, und dazu gehört es, dass wir Arbeitnehmerrechten auch zur Geltung verleihen.”

Wo er Recht hat, hat er Recht. Und doch meint Hubertus Heil den Arbeitnehmerrechten sei bereits Genüge getan wenn “gleicher Lohn für gleiche Arbeit” durchgesetzt werden würde. Was aber, wenn “gleicher Lohn” auch gleichschlechter Lohn? Um diese Frage zu stellen, müsste Hubertus Heil sich freilich an Hartz IV erinnern und die Folgen jener Gesetzgebung für die Lohnentwicklung. Auch sie sind ganz offensichtlich, springen einem förmlich ins Auge. Nur der politisch Demente kann sie nicht wahrnehmen und noch weniger sich der Ursachen für diese Entwicklungen erinnern.

Das alles zeigt: Die SPD ist mit 150 Jahren von schwerer Krankheit gezeichnet. Dass sich dies nicht auf die Bundesebene beschränkt, sondern auch für die Landesebene gilt, zeigt wiederum beispielhaft die Entwicklung der SPD in Berlin. So wurde Wirtschaft und Gesellschaft jüngst zugetragen, dass es einigen Abteilungen (so heißen dort die Ortsvereine) nicht einmal mehr gelingt, die eigenen Mitglieder zur Wahl ihrer Kandidaten für die anstehende Bundestagswahl zu bewegen. Dabei hat die SPD die Latte von vornherein sehr, sehr niedrig gehängt: Damit eine Mitgliederentscheidung Gültigkeit erlangt, müssen lediglich 20 Prozent der im Befragungsgebiet organisierten Mitglieder zur Wahl gehen (vgl. dazu hier: Verfahrensrichtlinie der SPD Landesverband Berlin). Müsste bei einem Scheitern nicht eine große Diskussion einsetzen, wie das denn geschehen konnte. Mitnichten. Geschehen – und vergessen. So bleiben die Funktionsträger und die, die es werden wollen, auch auf Landesebene unter sich. Was aber soll man auch schon erwarten, wenn nicht einmal der regierende Bürgermeister der Stadt sein Mandat, seinen Wahlkreis zu verteidigen in der Lage ist und es an ein bis dato unbekanntes CDU-Mitglied verliert, wie bei der zurückliegenden Abgeordnetenhauswahl geschehen. Ein alter, aufgeweckter Sozialdemokrat erzählte mir just beim einem Sonntagsspaziergang sinngemäß, dass die Küngelei in jenen Abteilungen nur Mittelmaß hervorbringen würde. Das soll hier als Schlusswort dienen.

Doch nein: Ich möchte Sie schließlich nicht entlassen, ohne einen Hinweis zu geben, wie Sozialdemokratie auch in fortgeschrittenem Alter aber mit jugendlichem Geist und Tatendrang mit dem Thema Leiharbeit, aber nicht nur mit diesem, nein, wie sozialdemokratische Politik ganz grundsätzlich auch aussehen könnte: Amazon und die Verantwortung der Politik – Von Ursula Engelen-Kefer.

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