Diener der Vermögenden dichten Rentenklau, Kleinsparerkrise und Vermögenskonzentration in Zinsmärchen um

English Summary: The managing director of the German financial newspaper Handelsblatt, Gabor Steingart, and some other persons writing for the German newspaper Frankfurter Allgemeine Zeitung refer to a speech by former president of Deutsche Bundesbank, Axel Weber, given yesterday. They criticize the policy of low interest rates by the European Central Bank (ECB) fabling that it is responsible for the concentration of wealth, lower pensions, longer working life. The article analyses the reason and the motivation behind this fairy tale.

Liegt es etwa daran, dass der Geschäftsführer des Handelsblatts, Gabor Steingart, Volkswirtschaftslehre nur im Nebenfach studiert hat, wenn er sich just jetzt als Schutzpatron der Armen in Szene setzt? Wohl kaum. Sein großes Vorbild, der ehemalige Bundesbank-Präsident Axel Weber, hat bekanntlich Volkswirtschaftlehre nicht nur im Hauptfach studiert, sondern es sogar zu Doktor- und Professorenwürde gebracht. Was eher darauf verweist, dass mit der deutschen Volkswirtschaftslehre etwas grundsätzlich im argen liegt. Auf Weber bezieht sich Steingart, wenn er schreibt (fett gedruckt im Original):

Ex-Bundesbank-Präsident Axel Weber kehrte gestern an seine alte Wirkungsstätte Frankfurt zurück – um der Europäischen Zentralbank auf höchstem fachlichem Niveau die Leviten zu lesen. Die Niedrigzinspolitik und der Aufkauf von ansonsten unverkäuflichen Staatsanleihen, so Weber auf der Handelsblatt-Bankentagung, hätten Nebenwirkungen, die weit über die Geldpolitik hinausreichten. So würden die Bestrafung von Sparern und das Beflügeln der Aktienmärkte zu einer massiven Umverteilung führen; die Schere zwischen Arm und Reich gehe weiter auseinander. Das Weber-Gespräch ist kein Interview, sondern eine Anklageschrift. Auf der Bank sitzen: Angela Merkel, Mario Draghi und jene Ökonomen, die aus opportunistischen Gründen ihren Frieden mit der Politik der Geldflutung gemacht haben.”

Gibt Steingart Weber richtig wieder, kann sich dieser jedoch unmöglich auf “höchstem fachlichem Niveau” präsentiert haben, sondern auf regelrecht unterirdischem. Um Weber wiederum im Original nachzulesen, soll man beim Handelsblatt bezahlen. Liebe Kleinsparer und anderweitig Interessierte an der weit vor der Niedrigzinspolitik in Gang gesetzten deutschen Vermögenskonzentration: Sparen Sie das Geld lieber für ein Abonnement von Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung (WuG). Hier werden Sie nicht für dumm verkauft. So wie von Gabor Steingart! Und so wie von Winand von Petersdorff, Philip Plickert und Hanno Mußler in der Franfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), die sich, sich ebenfalls auf Weber beziehend, nicht scheuen, denselben Unsinn zu verbreiten, wenn sie schreiben (kursive Hervorhebung , T.H.):

“Besonders in Europa werde die Niedrigzinsphase andauern. Die Notenbanken kauften Zeit, aber Europas Politiker nutzten sie nicht. Selbst in Deutschland sei die ´Reformbaustelle seit zehn Jahren verwaist´, kritisierte Weber die Regierung. Die Niedrigzinsphase werde die Deutschen zwingen, viel länger zu arbeiten als bisher. Die Schere zwischen arm und reich gehe auseinander. Denn nur Vermögende könnten es sich leisten, in die riskanteren, aber lukrativen Aktien- und Immobilienmärkte zu investieren. Normale Sparer dagegen, aber auch auf Anleihen fixierte Pensionssysteme seien Leidtragende der Niedrigzinspolitik. Unternehmen müssten die Pensionen senken, und Mitarbeiter länger arbeiten. In 15 bis 20 Jahren werde es heißen ´70 Jahre ist das neue 60“, weil sich kaum jemand werde leisten können, früher in Rente zu gehen.”

Dass die Notenbanken “Zeit kaufen” müssen, wegen der von Weber, Steingart, von Petersdorff, Plickert und Mußler eingeforderten “Reformen”, darauf kommen diese Herren nicht. Was nicht sein darf, das nicht sein kann. Der Begriff “Reformbaustelle” aber macht erst so gewendet wirklich Sinn. Denn die von jenen Autoren jetzt schon wieder eingefordeten “Reformen” haben in der Tat eine riesige “Reformbaustelle” hinterlassen – die die von denselben Autoren kritisierten Notenbanker in der Europäischen Zentralbank (EZB) und der US-Notenbank (Fed) verzweifelt zu bekämpfen suchen: Die im Rahmen der “Reformen” – in Deutschland im Wesentlichen als Agenda 2010 bekannt – durchgesetzen Gesetze haben den Staat aus seiner gesamtwirtschaftspolitischen Verantwortung entlassen und diese auf den Einzelnen übertragen (“Eigenverantwortung”); vor allem Hartz IV hat den Druck auf die Löhne erhöht und das ohnehin schwächere Glied in der Kette der Lohnfindung, die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften, in die Defensive getrieben; Unternehmens- und Spitzensteuersatzsenkungen, das Einfrieren von Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung, die Teilprivatisierung der Rente und der Krankenversicherung, all das hat Deutschland nicht nur eine Vermögenskonzentration historischen Ausmaßes beschert, sondern die Vermögenskonzentration selbst hat wiederum die Wachstumskräfte der Volkswirtschaft geschwächt, weil die Löhne das mit Abstand größte Nachfrageaggregat der Volkswirtschaft bilden. Das unübersehbare, unter anderem vom amerikanischen Finanzministerium immer wieder scharf kritisierte außenwirtschaftliche Ungleichgewicht, der Exportüberschuss Deutschlands, basiert wesentlich auf diesen “Reformen” und damit auch die Finanz- und Eurokrise.

Weil die anderen Euro-Länder jetzt jene deutschen “Reformen” im Schnelldurchgang nachholen müssen, liegt mittlerweile die ganze Europäische Währungsunion (EWU) wirtschaftlich und sozial am Boden. Wenn daher überhaupt etwas an der Geldpolitik der EZB zu kritisieren ist, dann nicht die Niedrigzinspolitik und andere geldpolitische Maßnahmen zur Wiederbelebung der Konjunktur, sondern dass auch die EZB – anders als die Fed – zugleich auf eben jene “Reformen” drängt, die ihre eigene, für sich genommen richtige Geldpolitik nun schon seit Jahren konterkarieren.

Dass Weber, Steingart, von Petersdorff, Plickert und Mußler jene Konsequenzen der von ihnen weiter eingeforderten “Reformen” nun zu einem Märchen über Rentenklau, Kleinsparerkrise und Vermögenskonzentration durch die besagte Niedrigzinspolitik umdichten, kann rational wohl nur darin begründet liegen, als dass diese Herren sich den Profiteuren jener “Reformen” verpflichtet fühlen: den Vermögenden. Oder kann man wirklich so dämlich sein? Nein, dafür sind diese Herren viel zu smart. Hoffentlich sind es ihre Leser auch, indem sie deren Texte als das nehmen, was sie sind: als Märchen oder – für die vermögenden Leser – als Selbstbestätigung. Denn das Selbstbewusstsein des ein oder anderen Vermögenden könnte doch angesichts der seit Jahren anhaltenden Wachstumsschwäche in der EWU und der offensichtlichen Ungerechtigkeiten, die die “Reformen” heute in so geballter Form hervortreten lassen, ins Wanken geraten, es könnte gewissermaßen einen ideologischen Schwächeanfall hervorrufen und, nicht auszudenken, ein soziales Gewissen. Da kann jene Art psychologische Betreuung, wie sie Weber, Steingart, von Petersdorff, Plickert und Mußler an den Tag legen, in ihrem Sinne durchaus stabilisierend wirken.

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