Denkwerk oder Blendwerk? SPD und GRÜNE wollen uns erneut auf Zukunft vertrösten – und spielen im politischen Sandkasten mit neuen Begriffen

“Das Denkwerk Demokratie ist ein gemeinnütziger Verein, der sich für eine soziale, ökologische und demokratische Zukunftsgestaltung einsetzt”, heißt es in der Vorstellung auf der Internetseite des Denkwerks Demokratie. Im Vorstand sitzen Yasmin Fahimi, IG Bergbau, Chemie, Energie, Michael Guggemos, IG Metall, Andrea Nahles, Generalsekretärin der SPD, Steffi Lemke, Politische Bundesgeschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen. So schmal der Vorstand besetzt ist, so breit aufgestellt ist der Beirat. Die personelle Bandbreite reicht vom SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel, der Parteivorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Claudia Roth, über diverse Gewerkschaftsvorsitzende und Ökonomen bis hin zum Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, Prof. Gerhard Wegner.

Dieser hochkarätig besetzte Verein hat nun vergangene Woche unter der Überschrift “Wohlstand von morgen. Wege zu einem nachhaltigen Wirtschaftsmodell” eine Konferenz abgehalten – und es damit sogar in die Nachrichten des Deutschlandsfunks geschafft. “SPD und Grüne wollen Debatte über Wachstumsbegriff anstoßen“, meldete dieser. Süddeutsche online machte gar mit der Überschrift auf: ”SPD und Grüne entwerfen grundlegend neue Wirtschaftspolitik“.

Wer würde da nicht sofort denken, etwas verpasst zu haben? Endlich, so mein erster Gedanke, würden SPD und Grüne also antreten, ihre Fehler aus der Vergangenheit wieder gut zu machen, die so genannten Arbeitsmarktreformen, Agenda 2010, die Absenkung des Rentenniveaus korrigieren. Endlich also ist die Einsicht gereift, dass alle diese im Namen der Globalisierung und der Wettbewerbsfähigkeit ins Leben gerufenen Gesetzgebungen kontraproduktiv waren. Sind etwa gar die Haushaltskonsolidierung um der Haushaltskonsolidierung willen und die Schuldenbremse als abwegig diskutiert worden?

Doch schon beim weiteren Hören der Nachrichten im Deutschlandfunk zerbrachen alle meine Träume. Hier die Meldung:

“Donnerstag, 14. Februar 2013 20:00 Uhr

SPD und Grüne wollen Debatte über Wachstumsbegriff anstoßen

SPD und Grüne wollen mit der Forderung nach mehr Nachhaltigkeit eine Debatte über die Grundlagen der Wirtschaftspolitik anstoßen. Konkret schlugen SPD-Chef Gabriel und Grünen-Fraktionschef Trittin mehr Mitbestimmung in Unternehmen, eine höhere Energieeffizienz und den Abbau von Subventionen vor. Das bestehende Modell, das nur Wachstum, Beschäftigung, Preisstabilität und außenwirtschaftliches Gleichgewicht umfasse, bilde nicht mehr ab, was heute unter Fortschritt verstanden werde, sagte Gabriel in Berlin. In der Politik dürfe es nicht nur um die Verwaltung der Verhältnisse gehen. Man müsse vielmehr den Menschen wieder näher kommen.”

Wie in Kraut und Rüben geht es da durcheinander. Und als ob “mehr Mitbestimmung in Unternehmen, eine höhere Energieeffizienz und der Abbau von Subventionen” nun neue Hüte wären! Ist ja auch gar nicht schlimm. Es muss ja gar nicht immer alles neu sein, das Lösung verspricht. Dass “mehr Mitbestimmung in Unternehmen” für Gabriel jetzt wieder etwas Fortschrittliches ist, mag ja auch daran liegen, dass er und seine Partei alles Denkbare und Undenkbare in Regierungsverantwortung unternommen haben, dass diese Mitbestimmung nach Kräften geschwächt wurde. Noch denkwürdiger aber ist, dass Gabriel meint, “das bestehende Modell” – gemeint ist das 1967 in Kraft getretene Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft bzw. das “Magische Viereck”, auf das wir sogleich zu sprechen kommen – “bilde nicht mehr ab, was heute unter Fortschritt verstanden werde”.

Nimmt man nämlich die “vier Ecken” des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, die Gabriel mit “Wachstum, Beschäftigung, Preisstabilität und außenwirtschaftliches Gleichgewicht” korrekt benennt, und schaut, wie es um diese bestellt ist, stellt man bei genauerem Hinsehen fest, dass diesem Gesetz in keinem Punkt entsprochen wird.

In § 1 des Gesetzes heißt es:

“Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.”

Die Stabilität des Preisniveaus aber wurde – gemessen am vertraglich vereinbarten Inflationsziel der Europäischen Zentralbank von “nahe unter zwei Prozent” – über Jahre fortlaufend unterschritten. Die Bundesregierung geht auch für das laufende Jahr von einem Anstieg der Verbraucherpreise von 1,8 Prozent aus. Im Januar lagen die Verbraucherpreise laut Statistischem Bundesamt voraussichtlich um 1,7 Prozent höher als im Januar 2012.

Die Arbeitslosenquote betrug im Januar 7,4 Prozent – weit entfernt von den 3 Prozent, die nach allgemeinem Verständnis als Vollbeschäftigung gelten. Die Bundesregierung geht in ihrem Jahreswirtschaftsbericht von einer weiter leicht steigenden Arbeitslosigkeit aus.

Und auch das Wirtschaftswachstum war über viele Jahre weder stetig noch angemessen. Angemessen ist das Wirtschaftswachstum dann, wenn es geeignet ist, die Arbeitslosigkeit zu senken. Hierzu muss die Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts (Erwerbstätige*Arbeitsproduktivität) über der Wachstumsrate des Produktionspotenzials (Arbeitslose plus Erwerbstätige*Arbeitsproduktivität) liegen. Auch in diesem Jahr wird das Wirtschaftswachstum voraussichtlich nicht angemessen sein.

Noch weiter entfernt vom vorgegebenen Ziel des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts sind die Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse. Gerade erst hat das Statistische Bundesamt einen neuen Rekord beim Leistungsbilanzüberschuss für das vergangene Jahr in Höhe von 166,9 Mrd. Euro gemeldet; und auch der Handelsbilanzüberschuss war mit 188,1 Mrd. Euro der zweithöchste Überschuss seit Einführung der Außenhandelsstatistik im Jahr 1950.

Wenn der SPD-Vorsitzende nun im Zusammenhang mit diesen auch als Magisches Viereck bekannt gewordenen Zielsetzungen meint, “in der Politik dürfe es nicht nur um die Verwaltung der Verhältnisse gehen”, dann zeigt dies nicht nur, dass er nicht verstanden hat, dass das Verfolgen jener Zielsetzungen alles, nur nicht das Verwalten der Verhältnisse bedeutet, sondern auch, dass er sich nicht bewusst ist, dass allerdings ein Aktionismus bar jeden gesamtwirtschaftlichen Denkens, wie er und seine Partei ihn mit der Agenda 2010 praktiziert haben, diesen Zielsetzungen nachhaltig geschadet hat. So verstanden ist das “Magische Viereck” bzw. das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz aktueller und fortschrittlicher denn je.

Dass Gabriel damit dennoch nicht allein ist im “Denkwerk Demokratie”, macht wiederum das Diskussionspapier deutlich, das anlässlich der Konferenz “Wohlstand von morgen. Wege zu einem nachhaltigen Wirtschaftsmodell” unter der Überschrift “Wir brauchen ein neues wirtschaftliches Gleichgewicht“ veröffentlicht wurde. Frei nach dem Motto, so scheint es: Ist das alte wirtschaftliche Gleichgewicht verloren gegangen, suchen wir uns halt ein neues. Schon der Titel der Konferenz lädt dabei zur Kritik ein. Wieder einmal ist “von morgen” die Rede. Wurden wir nicht schon mit der Agenda 2010, verkündet von Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung am 14. März 2003, auf morgen vertröstet? Die SPD hat es darin wahrlich zur Meisterschaft gebracht. “Unser Projekt heißt Zukunft“, wirbt die SPD-Bundestagsfraktion sogar. Das trägt schon fast alt-sowjetische Züge oder ist vielleicht sonst nur noch in bestimmten Kirchenkreisen en vogue. Da trifft es sich dann wieder gut, dass auch das Denkwerk Demokratie sich explizit für “Zukunftsgestaltung einsetzt” und nicht etwa für die Gestaltung der Gegenwart.

Die Einleitung des Diskussionspapiers offenbart eine Sichtweise auf die Gegenwart, die jeden einigermaßen informierten Menschen nur in Erstaunen versetzen kann, erst recht jeden, der darüber hinaus noch Niedriglöhner, Hartz IV Empfänger und Rentner mit ungenügender Altersversorgung ist.

“Deutschland geht es wirtschaftlich gut – wenn man nur auf zwei Kennzahlen blickt. Gemessen am ´Bruttoinlandsprodukt´ und an der ´Zahl der Erwerbstätigen´ leben wir offenbar in Goldenen Zeiten. Doch eine Betrachtung, die sich auf diese beiden Daten beschränkt ist kurzsichtig. Die klassischen Indikatoren der Statistik sagen über die soziale Realität und die Lebensqualität in diesem Land zu wenig aus. Sie verschleiern wachsende Ungerechtigkeit und Unzufriedenheit und liefern keine Informationen über die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft.”

Um gar nicht erst Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es soll hier nicht darum gehen, in Frage zu stellen, dass sich insbesondere die Wirtschaftswissenschaft, aber auch die Wirtschafts- und Sozialpolitik, darum bemühen müssen, Statistik zu hinterfragen und deren Aussagekraft gegebenenfalls auch mit neuen Indikatoren zu stärken.

Dass, was das Denkwerk Demokratie hier aber formuliert, wird der Aussagekraft der genannten Indikatoren, insbesondere des Bruttoinlandsprodukts, so, wie es heute bereits ausgewiesen wird, nun wirklich nicht gerecht. Die im Einzelnen ausgewiesenen Komponenten des Bruttoinlandsprodukts gewähren im Gegenteil reichlich Anschaungsmaterial “über die soziale Realität und die Lebensqualität in diesem Land”, auch über die “wachsende Ungerechtigkeit” und die “Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft”. Man denke nur an die Entwicklung der Arbeitnehmerentgelte und der Unternehmens- und Vermögenseinkommen, die Inlandsnachfrage, die Konsumausgaben der privaten Haushalte, Investitionen oder den Außenbeitrag. Wir konnten oben allein mit der herkömmlichen Statistik andeuten, dass es um die Ziele des Magischen Vierecks nicht gut bestellt ist. Jedoch nicht einmal, wenn man sich “nur” das Bruttoinlandsprodukt anschaut, kann man zu dem Schluss kommen, den das “Denkwerk Demokratie” sich zurechtgelegt hat: “Deutschland geht es wirtschaftlich gut.” In diesem Fall scheinen weniger die “Daten beschränkt”, als diejenigen, die sie lesen. Wer zwingt uns darüber hinaus, nur Anleihen beim Bruttoinlandsprodukt zu nehmen? Niemand würde das tun, auch nicht die Bundesregierung. Das alles wirkt doch reichlich hingebogen.

An jene einleitenden Sätze schließt sich eine Auflistung von Problemfeldern an, die zum einen eben gerade darauf verweisen, dass es um Deutschland und Europa nicht gut bestellt ist; gleichzeitig aber fragt man sich, warum die genannten Punkte – “Finanzkapitalismus ungebrochen”, “Europa aus der Balance”, “Klimawandel und Umweltzerstörung”, “Gute Arbeit – nicht für alle”, “Für viele kein Wohlstand”, “Privater Reichtum, öffentliche Armut”, “Herrschaft der Märkte statt Demokratie” – die mittlerweile in der Form, in der sie präsentiert werden, längst Allgemeinplätze geworden sind, nun als Grundlage für ein Diskussionspapier dienen soll, das den Anspruch erhebt, ein neues wirtschaftliches Gleichgewicht finden zu wollen. Das größte Manko dabei: Es wird keinerlei Versuch unternommen zu erklären oder auch nur anzudeuten, wie es denn zu dieser Schieflage kommen konnte. Klar, jeder nicht ganz von Parteipolitik benebelte Leser wird natürlich sofort denken: Na, das wäre denen dann ja auch selbst auf die Füße gefallen. Die haben das schließlich alles in Gesetz gegossen, was diese ungleichgewichtige Entwicklung verursacht hat. Das aber macht die ganze Veranstaltung ja noch einmal mehr absolut lächerlich und unaufrichtig.

Der nächste Widerspruch ist dann, dass das “neue Magische Viereck” zwar “nach dem Vorbild des traditionellen ´Magischen Vierecks´ der 1960er Jahre (Wachstum, Beschäftigung, Preisstabilität, Außenhandelsbilanz)” definiert werden soll, das Gesetz aber, das dieses “Vorbild” enthält, gleichzeitig für “überholt” erklärt wird. Anstatt erst einmal den Zielen bzw. Vorgaben des vermeintlich “überholten” Gesetzes nachzukommen, was nun wahrlich einen Politikwechsel, eine politische Alternative bedeuten würde, die freilich kaum zu erfüllen ist, ohne dass die Beteiligten Abstand von ihren von Beginn an “überholten” wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Gesetzgebungen Abstand nehmen. Genau darüber aber täuschen sich die Beteiligten bewusst oder unbewusst hinweg. Den außenstehenden Leser aber wohl kaum.

Die vier Punkte, die uns schließlich als “neues Magisches Viereck” verkauft werden, sind schließlich alles andere als neu: “Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und der Staatsfinanzen”, “Materieller Wohlstand und ökonomische Nachhaltigkeit”, “Soziale Nachhaltigkeit”, “Ökologische Nachhaltigkeit”. Alles gut und schön und auch nicht verkehrt. Nur fragt man sich, gerade auch aufgrund der wiederum allgemeinplatzartigen und für die meisten doch als selbstverständlich geltenden Beschreibungen, was denn die Beteiligten veranlasst, dabei so staatstragend und salbungsvoll daher zu kommen, wo viele der Beteiligten eben diese Ziele in Regierungsverantwortung und selbst in den Gewerkschaften aufs Gröbste vernachlässigt haben – über viele viele Jahre und in weiten Teilen auch heute noch – ohne darüber auch nur ein Wort zu verlieren: “Eine zukünftige Bundesregierung sollte diese Ziele eines neuen ´Magischen Vierecks´ verbindlich festschreiben. Denkbar wäre es, das überholte Stabilitäts- und Wachstumsgesetz aus dem Jahr 1967 durch ein ´Wohlstands- und Nachhaltigkeitsgesetz´ zu ersetzen.”

Am Ende wäre noch zu fragen, wer so etwas eigentlich finanziert? Hoffentlich nicht wir Steuerzahler!

Wirtschaft und Gesellschaft hat jetzt auch eine und freut sich über jedes “Gefällt mir”.

Wenn nur 100 Wirtschaft und Gesellschaft abonnieren…


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