“Einen Sechser im Lotto” – Eine Arbeitslose möchte investieren
Dezember 19

Ich sitze wieder in meinem Café, dort, wo es den Morgen-Tee für unter zwei Euro gibt. Es ist ein guter Tee. Und die Menschen, die dort arbeiten, sind freundlich, so freundlich. Und, wie ich aus zuverlässiger Quelle weiß, besser bezahlt, als in anderen Cafés drumherum – und besser, als es der Mindestlohn von 8,50 für 2017 im neuen Koalitionsvertrag von Union und SPD vorsieht. Und: Nicht nur ich bekomme meinen Tee. Meine vierbeinige Kollegin Hilka bekommt zeitgleich auch ihren Wassernapf hingestellt – und jede Menge Streicheleinheiten von Personal und Gästen. Neben mir nimmt eine Frau im fortgeschrittenen Alter Platz. Sie schlägt den Berliner Kurier auf. Seite 2: “Der erste Tag vom Ende der SPD”, lese ich die fettgedruckte Überschrift. Muss ich jetzt doch schon den Berliner Kurier lesen? Die Frau schlägt wenig später aber noch etwas anderes auf, das mein Interesse weckt.

Es ist ein kleiner Adventskalender aus Papier. Ich frage sie: “Was war denn drin?” “Leider nichts.” “Nichts?”, frage ich sie, “wie kann das sein?” Es ist wohl ein Werbe-Lotto-Adventskalender, wie sich herausstellt. “Was hätten Sie sich denn gewünscht?” “Sechs Richtige im Lotto. – Dann könnte ich investieren.” “Investieren? In was würden Sie denn investieren, wenn Sie das Geld hätten?” “Ach, ich bräuchte dafür gar nicht sechs Richtige. Ich würde in ein Fahrrad investieren, eines mit einer Anlage zum Kaffee verkaufen. Das kostet ungefähr 15.000 Euro.” “Und damit würden Sie dann umherfahren und Kaffee verkaufen?” “Ja, oder mich vor eines der Bürohäuser stellen. Das würde schon laufen. Ich habe mir das alles schon ausgerechnet.” “Und von was leben Sie jetzt, wenn ich fragen darf?” “Jetzt bin ich arbeitslos.” “Und was haben Sie vorher gemacht?” “Da war ich im Marketing tätig.” Sie erzählt mir noch Einiges über die Bedingungen für ihr anvisiertes Unternehmen. Eine nachdenkliche Frau und überlegt, wie sie so erzählt. Es klingt wie eine kleine Flucht. Eine Flucht in die Selbstständigkeit. Aber nein, man kann es auch ganz anders begreifen. Hier sucht ein Mensch einen Ausweg, seinem Leben eine neue materielle Basis zu schaffen. Sie macht keinen unglücklichen Eindruck. Nüchtern, nüchtern und gesetzt wirkt sie auf mich.

Unglücklich waren die Menschen, die mir morgens auf meinem Weg in das Café entgegen kamen. Fast jeden Morgen springt mir ihr Unglücklichsein wieder ins Gesicht. Abgearbeite, angespannte, unglückliche Gesichter. Verbissen, in Eile. Sie gehen alle Richtung Deutscher Bundestag. Die meisten von ihnen arbeiten wohl dort. Sie sind definitiv nicht glücklich. Aber ebenso bestimmt wollen sie nicht ihre Stelle verlieren. Wer wollte es ihnen verdenken. In dieser unsicheren Welt. Die so ganz anders aussieht, sobald man sie von der Straße aus betrachtet, als die Politiker im “hohen Haus”, das längst ein abgehobenes Haus geworden ist, und die Unternehmenschefs in den Vorstandsetagen sie uns täglich weiszumachen versuchen – mit tatkräftiger Unterstützung der wenigen noch gut situierten Journalisten.

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