Nachbar gesucht! – Von Inge Hannemann
10 Dezember

“Die Welt weinte” zum Tod von einem gewaltlosen Weltveränderer: Gandhi. So schrieb 1983 der Journalist Louis Fischer in der Biographie über einen der größten Propheten, der das 19. und das 20. Jahrhundert prägte. Rund 2000 Jahre zuvor weinte die Welt um Jesus, der für die Menschen am Kreuz starb. Zwei Männer mit Gaben wie Demut, Wahrheit, Gewaltlosigkeit, Güte und Liebe für die Menschen. Und zwei Männer, deren starke Persönlichkeit es möglich machte, auch Gegnern mit Liebe zu begegnen. Es waren Freunde der Menschen – aus ihrem Glauben und ihrer Überzeugung erwachsen. Bürger eines Landes, in dem Ungerechtigkeiten, Krieg, Leid, Armut und Klassengesellschaft herrschten. Sie waren stark; nicht weil sie sich selbst gesehen haben, sondern die Menschen, die Freunde und das Geschehen um sich herum. Auf Beobachtungen folgten Zweifel. Und aus Zweifel wuchs Stärke. Aus dieser Stärke folgte schließlich das konsequente Handeln für die Menschheit.

Weihnachten naht. Die Adventszeit begleitet uns bis zum Heiligabend. Straßen strahlender Lichter, Weihnachtsmärkte und die Kaufhäuser überfüllt mit Dingen, die der Mensch schon immer brauchte. Oder zumindest meint, sie zu benötigen. Es gilt, das Weihnachtsgeld in die Kassen der bunt geschmückten Einzelhändler zu tragen. Leuchtende Kinderaugen vor den vollgestopften Regalen dieser Geschäfte und heimliche Blicke unter das Bett der Eltern, mit der Hoffnung den lang ersehnten Wunsch zu entdecken. All dieses klingt harmonisch und ist es auch, sofern das Weihnachtsgeld wahrhaftig auf dem Gehaltskonto eingegangen ist.

Deutschland wartet derzeit mit rund 42 Millionen Beschäftigten auf. Eine Zahl, die auf den ersten Blick befreite Weihnachten erwarten lässt. Vergessen wird dabei jedoch die hohe Zahl von rund 1,3 Millionen Beschäftigten, die im prekären Arbeitsmarkt und mit aufstockenden Sozialleistungen ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Ebenso ignoriert die Millionen Erwerbsloser, die Obdachlosen und Rentner/innen in Armut. Vergessen auch die Zahl der in Armut lebenden Kinder. Diese Kinder kennen kaum einen Weihnachtsbaum voller bunt verpackter Geschenke. Und die Eltern waren in den Wochen zuvor über Spenden, Sozialkaufhäuser oder stattgefundenen “Bettelrufen” via sozialen Netzwerken bemüht, kleinere Träume ihrer Kinder erfüllt zu bekommen. Die Scham dieser Menschen kann man nur erahnen. Ist es fühlbar für Menschen, die noch nie mit Armut konfrontiert worden sind? Und muss es fühlbar sein? Schließlich haben sie ihren Job, ihr geregeltes Einkommen und stehen dafür zumeist tagtäglich auf. Reicht es nicht, wenn sie ein wenig oder auch ein wenig mehr in die Spendenbüchse eines Weihnachtsmarktes werfen oder entsprechende Spendenzahlscheine ausfüllen? Ja, auch ich habe Weihnachtsgeld erhalten. Und ja, auch ich mag Geschenke und denke, dass ich mich damit nicht von der Masse abhebe. Aber – muss es auf Zwang an Weihnachten sein? Kann die Spendenquittung nicht ein monatlicher laufender Posten sein? Und muss ich auf Druck in ferne Länder spenden, wenn die Not bei mir um die Ecke lebt? Hiermit distanziere ich mich nicht für Spenden in ferne Notgebiete. Die sind wichtig und notwendig. Allerdings, so scheint es, gerät der Blick zum Nachbarn immer mehr in den Hintergrund. Deutschland scheint es gut zu gehen – das mag für achtzig Prozent stimmen; jedoch nicht für die restlichen zwanzig Prozent. Und das könnte unser Nachbar, ein Mensch, sein. Riskieren wir doch einfach einen Blick zur Nachbartür und vermutlich lässt sich vieles Überraschendes entdecken: Vielleicht strahlende Kinderaugen, erleichterte Elternblicke oder einfach ein “Angenommen-Fühlen”.

In diesem Sinne: Fröhliche Weihnachten mit einem Blick über die eigene Tür hinaus. Danke.

Inge Hannemann ist als Arbeitsvermittlerin für arbeitsuchende Menschen in einem Jobcenter tätig. Seit rund 15 Jahren begleitet sie die Struktur der Agentur für Arbeit und seit der Einführung der Arbeitsmarktreform 2005 die Entwicklung der Jobcenter. In ihrer Freizeit betreibt sie ihre eigene Internetseite: www.ingehannemann.de. Auf Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung hat sie auch bereits publiziert: Inge Hannemann. Besonders wichtig: Inge Hannemann hat eine Petition zur Abschaffung der Sanktionspraxis bei Hartz IV eingereicht, deren Unterzeichnung ich nachdrücklich empfehle. Sie kann hier in Papierform und hier direkt online beim Deutschen Bundestag gezeichnet werden.

————————————————————-

Sie können helfen, unseren Leserkreis zu erweitern!

Wirtschaft und Gesellschaft hat jetzt auch eine und freut sich über jedes “Gefällt mir”.

————————————————————-


Dieser Text ist mir etwas wert


Verwandte Artikel: