Italien, Süddeutsche Zeitung: Stefan Ulrich – Journalist oder Jünger?

English Summary: Something is wrong with German journalism on economic policy. The text analyses a recent example, an article on the development in Italy under “reform” lacking any empirical substance but being published in one of the most established German newspapers, Süddeutsche Zeitung. Whereas German investigative journalism on issues like the intelligence apparatus and public monitoring works quite well this is mostly not the case as far as investigative journalism on economic policy issues is concerned. The article questions why.

Stefan Ulrich hat in der Süddeutschen Zeitung eine Eloge auf den italienischen Premier Matteo Renzi geschrieben. “Reformen” hätten Heilung gebracht, “Übel” aber bestünden fort. Neben der “Staatsverdrossenheit” und einer “in Teilen verantwortungslosen politischen Klasse” – das sind für Ulrich diejenigen, die Nein zu den “Reformen” sagen – sei “ein neues Übel: die Ablehnung Europas” zu beobachten. Weil Ulrich die “Reformen” geradezu vergöttert, und ein wahrer Jünger seinen Gott nun einmal nicht infrage stellt, fällt Ulrich nicht ein, das von ihm benannte “neue Übel” in Beziehung zu den “Reformen” zu setzen – in Deutschland und Italien.

“Einst waren die Italiener ein europa-enthusiastisches Volk. Weil sie Rom misstrauten, setzten sie auf Brüssel. Nun trauen viele Bürger keinem mehr. Die EU erscheint ihnen als von Deutschland beherrschtes Zwangssystem, in dem Italien darbt”, beklagt Ulrich (siehe hier). Dass letzteres an dem wirtschaftspolitischen Kurs liegen könnte, den Renzi favorisiert und die EU unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands oktroyiert, kommt Ulrich gar nicht in den Sinn (siehe zur deutschen Rolle auch das von uns kommentierte Interview Schäubles im Deutschlandfunk vom 25. April 2013). Weil nicht sein kann, was nicht sein darf? Für Ulrich ist es gerade Renzi, der “mit aller Kraft zu verhindern sucht, dass der Vulkan explodiert und auch Europa beschädigt.”

Ulrich meint, es sind “die alten Übel, neben der Mafia”, “die Staatsverdrossenheit” und “die lähmende Bürokratie und schleppende Justiz”, die “zur chronischen Wachstumsschwäche” beitragen, “an der Italien seit zwei Jahrzehnten leidet”. “Kein anderes Land der Euro-Zone ist seit Einführung der Währung 1999 so langsam gewachsen.”

Wie erklärt sich dann aber, dass die Wirtschaftsleistung Italiens trotz dieser Jahrzehnte alten “Übel” zwischen dem 1. Quartal 1999 und dem 1. Quartal 2007 genauso stark oder schwach zugelegt hat wie die Deutschlands? Sicher, das geübte Auge erkennt in unserer Graphik unten zugleich, dass die deutsche Wirtschaft seit 2005 stärker wächst, als die italienische. Ein “Erfolg” der deutschen “Reformen”, der Agenda 2010?

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Die einschneidenste “Reform”, Hartz IV, wurde erst zum 1. Januar 2005 eingeführt. Hat sie sofort ihre Wirkung entfaltet und wenn, welche? Erklärtes Ziel der Agenda 2010, insbesondere Hartz IV, war es, die Lohnentwicklung hinter die Produktivitätsentwicklung zurückfallen zu lassen; die “Lohnzurückhaltung”, so das Verständnis selbst in den Gewerkschaften, sollte Spielraum für zusätzliche Beschäftigung schaffen. Wenn die Löhne aber hinter die Produktivität zurückfallen, wirkt sich dies in der Regel auf die Preisentwicklung aus: die Preisentwicklung wird gedämpft. Ist dies bei den Handelspartnern Deutschlands nicht der Fall, verbessert sich die deutsche Wettbewerbsfähigkeit (siehe hierzu zuletzt am Beispiel Frankreich). Mindestens genauso entscheidend ist, dass die Lohnentwicklung auch die Binnennachfrage beeinflusst. Die Löhne sind das mit Abstand größte Nachfrageaggregat; wird ihre Entwicklung gedämpft, muss sich dies negativ auf die Inlandsnachfrage auswirken. Wir haben dies an anderer Stelle vertieft und problematisiert.

Für den Fall Ulrich ist interessant, dass die Konjunktur in Deutschland und Italien sich auch nach 2005 noch im selben Muster bewegt, wenn auch Italiens Dynamik hinter die Deutschlands zurückfällt. Bis zum 3. Quartal 2011.

Erst seitdem hat sich die Entwicklung der italienischen Wirtschaftsleistung geradezu abrupt von der deutschen nach unten abgesetzt. Just 2011 hat Italien gewissermaßen begonnen, der deutschen Agenda 2010 nachzueifern. Die Arbeitnehmerentgelte im öffentlichen Dienst sind nicht nur real, sondern nominal gesunken. So auch die nicht-geldlichen Sozialleistungen. Die realen Staatsausgaben haben bereits 2010 begonnen zu sinken und wurden in den Folgejahren weiter gekürzt. Die realen Staatseinnahmen durch indirekte Steuern (Mehrwertsteuer) begannen wiederum 2010 zu steigen. Eine Entwicklung, die in den Folgejahren anhielt und die Massenkaufkraft und damit die Binnennachfrage zusätzlich belastet hat. Die realen Staatseinnahmen durch direkte Steuern auf Einkommen und Vermögen sanken indes 2011 und 2013. Die Zuwachsrate der realen Inlandsnachfrage, die – wie die Zuwachsrate des realen Bruttoinlandsprodukts insgesamt – 2010 bereits wieder im Plus lag, wurde 2011 und in den Folgejahren wieder negativ.

Das ist das Ergebnis der von Ulrich vergötterten “Reformen”. Nicht nur der in Italien, sondern auch der in Deutschland. Denn offensichtlich steht Italien durch die vorausgegangenen “Reformen” in Deutschland unter Wettbewerbsdruck und unter dem Druck mangelnder Inlandsnachfrage aus Deutschland. Beides dürfte dazu beigetragen haben, dass Deutschland mehr an Italien verkauft (exportiert), als von dort einkauft (importiert).

Auf diese Datenlage und die zu erwartenden politischen Folgen – die Ulrich ja auch beklagt: “die Ablehnung Europas” – hat WuG in einem Beitrag bereits am 13. Dezember 2012 (!) hingewiesen: “Deutschland und ´EU-Troika´ trimmen Italien für Rechts-Populismus“. Auf meiner gerade beendeten, mehrmonatigen Reise durch den Süden Europas wiederum saß mir im Regionalzug von Milano nach Verona eine junge Italienerin gegenüber. Wie fast immer auf dieser Reise stellte ich auch ihr die Frage: “Was denken Sie über Europa?” Sie holte weit aus. Wie sich herausstellte, ist sie Volkswirtin. Eine, die herumgekommen ist, unter anderem auch in China studiert hat. Sie hatte gerade erst wieder Arbeit bekommen. Statt in Milano, in Verona. Und schlechter bezahlt, als zuvor. Was ihr am meisten Sorgen bereite: “Ich bin immer noch aktiv, motiviert, aber um mich herum, auch in meinem Freundeskreis, werden die Menschen zunehmend apathisch. Diese Apathie, diese Passivität, diese Hoffnungslosigkeit bereiten mir am meisten Sorge.” Das ist der soziale und psychologische Humus, auf dem radikale und populistische Parteien wachsen und gedeihen. Nicht nur “der Süden blutet aus” (Ulrich), sondern auch der Norden.

Wie kann man diese Entwicklungen ignorieren bzw. ihnen gar nicht erst auf den Grund gehen? Warum gelingt es den meisten Journalisten auf dem Feld der Wirtschaftspolitik nicht investigativ zu sein, bei Themen wie Geheimdiensten zum Beispiel aber schon? Ulrich ist dafür ja nur ein exemplarisches Beispiel. Hier hat sich meines Erachtens ein wirtschaftspolitisches Verständnis so sehr verselbständigt, dass allzu viele Journalisten meinen, es nicht länger hinterfragen oder gar belegen zu müssen. So auch in der Politik, die durch jenen lahmgelegten Journalismus nicht länger in ihrem Selbstverständnis herausgefordert wird.

Dabei gibt es im italienischen Wirtschafts- und Staatswesen sicherlich viel zu verbessern, zu reformieren. Nur ist ein politischer Hallodri wie Renzi kaum die Lösung, sondern vielmehr Teil des Problems. Der vielleicht grundlegenste Fehler sowohl Renzis, als auch Ulrichs, ist es dabei, den engen Zusammenhang von Konjunktur und Beschäftigung, der sich bis heute – ungeachtet aller “Reformen” – auch in Deutschland behauptet, zu ignorieren. Wir haben das an anderer Stelle empirisch nachgewiesen. Auch für die Jugendarbeitslosigkeit.

Wenn sich Ulrich also wirklich um die Jugendarbeitslosigkeit sorgt, wie er vorgibt, sollte er zumindest versuchen, den Dingen auf den Grund zu gehen, nicht länger als Jünger missionieren, sondern als Journalist aufklären. Glaubenssätze passen dagegen naturgemäß eher zu religiösen Themen. Das wiederum könnte für Ulrich auch aus einem anderen Grund lehrreich sein: Hinterfragt doch der Vatikan die “Reformen”, an die Ulrich glaubt, durchaus kritisch.

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