Eurokrise/Wolfgang Schäuble: Der gefährlichste Mann Europas – und ein Plädoyer für Europa

Nach dem Interview, das der Bundesfinanzminister heute früh dem Deutschlandfunk gab, kann man es, ohne zu übertreiben, so formulieren: Dieser Mann geht über Leichen.

“Unterdessen spielen sich in einigen Ländern Tragödien ab. Der viel gelobte Mario Monti hat in Italien die Renten gesenkt – mit der Folge, dass verzweifelte Rentner Selbstmord begehen. Das gibt es auch in Griechenland. Ist das der Preis für Konsolidierung?”, fragte Moderator Christoph Heinemann Wolfgang Schäuble, nachdem der sein übliches Lied von der Wettbewerbsfähigkeit und “jeder kehr´vor seiner eigenen Tür” in verschiedenen Tonlagen gesungen hatte. Schäubles lakonische Antwort:

“Es gibt leider immer in Einzelfällen schreckliche, auch falsche Entscheidungen und Verzweiflung. Es gibt Übertreibungen in der Medienberichterstattung. Wir haben gerade auch eine Statistik von der Europäischen Zentralbank bekommen, wie das Vermögen in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verteilt ist, und diese Statistik hat nicht gerade dafür gesprochen, dass die Vermögen in Deutschland am höchsten sind, sondern gerade auch in den Ländern, von denen wir ständig reden. Das heißt, wenn man genauer hinschaut, was die Probleme sind, wenn man die Probleme richtig analysiert und nicht die Schuld beim anderen sucht, dann findet man auch die richtigen Lösungen. Wir haben das in Deutschland getan, deswegen sind wir ziemlich erfolgreich. Wir helfen anderen, das ist klar, das ist auch unser eigenes Interesse. Aber wir können nicht daran mitwirken, dass man jetzt durch eine Verschiebung der Ursachen sich wieder auf den falschen Weg begibt.”

Es ist die erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber dem menschlichen Einzelschicksal, die Schäuble hier ausdrückt und die betroffen macht. Der Sprung von sterbenden Menschen zu einer Vermögensstatistik der EZB ist irre (mit der Vermögensstatistik, die Schäuble hier heranzieht, müssen wir uns an dieser Stelle nicht auseinandersetzen. Sie ist von anderen bereits kritisiert worden). Schon beim Lesen. Erst recht beim Nachhören des Interviews. Merkt das denn niemand? Dieser Mann zerstört Europa mit Worten, die wie Waffen wirken, nicht zuletzt durch den Druck, den Deutschland auf europäischer Ebene damit erzeugt. Im Grunde genommen hätte der Journalist das Schäuble sagen müssen. Ich hätte es ihm gesagt. Als Politiker hätte man Schäuble wegen seiner Aussagen zum Rücktritt auffordern müssen. Warum hat dies heute keiner getan? Auch wegen dieses Satzes:

“Viele europäische Länder machen ja große Fortschritte, aber die klagen nicht jeden Tag und vor allen Dingen verlangen sie nicht immer von anderen die Lösung ihrer eigenen Probleme, sondern sie kümmern sich selber.”

Dieser ganze Duktus ist einfach nur brutal, rücktsichtslos und menschenfeindlich. Ganz unabhängig davon, dass kein europäisches Land, keines(!), “große Fortschritte macht”. Man soll gefälligst die Zähne zusammen beißen und nicht klagen, sich selber um seine eigenen Probleme kümmern. Das ist auch zutiefst antieuropäisch. Was bleibt denn schließlich noch von einem gemeinsamen Europa, wenn sich jeder selber um seine eigenen Probleme kümmern soll – die natürlich nicht “eigene Probleme” sind und deswegen auch nicht von einem Land “selber” gelöst werden können.

Schlimm. Schlimm. Schlimm. Dieser Bundesfinanzminister ist unerträglich. Er ist nicht tragbar. Er ist ein Soziopath. Dass er die ökonomischen Ursachen der Krise nicht versteht, ist dagegen eine harmloser Vorwurf. Auch angesichts der Hilflosigkeit der anderen Politiker, parteiübergreifend. Wobei Schäubles intellektuelles Unvermögen, ja das Fehlen jedweden Interesses um wirkliche Erkenntnis, das das Interesse an unterschiedlichen Meinungen und an der Auseinandersetzung mit diesen voraussetzt, für sich genommen grausen lässt. Das aber kann angesichts der Aussagen Schäubles hier nicht Thema sein. Nein. Es ist diese eiskalte und verbohrte Geisteshaltung, die nicht toleriert werden darf. Und nicht toleriert werden wird. Sie wird auf Dauer nicht toleriert werden. Darüber kann es gar keinen Zweifel geben. Am deutschen Wesen wird die Welt auch dieses Mal nicht genesen. Die europäische Welt geht gerade daran zugrunde.

Wer kann schon ein Europa wollen, in dem man die Zähne zusammenbeißen muss, in dem Fortschritt durch Leiden erzeugt werden soll und Selbstmorde als “falsche Entscheidungen” abgetan werden. Es ist tatsächlich wieder soweit. Man muss sich für Deutschland schämen. Für die deutsche Politik. Nicht nur für die Regierung. Auch für die Opposition, die Medien, die business as usual betreiben und sich mit politischem Kleinklein beschäftigen, anstatt es herauszuschreien: Wir sind in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren. Menschen verzweifeln. Viele Menschen. Sehr viele Menschen. Ganze Länder. Wir stürzen sie ins Elend, in die Depression, in den Tod. Schluss. Schluss. Schluss. Macht endlich Schluss damit.

Und Schluss damit zu machen kann nur heißen, aufzuhören zu kürzen. Es muss Geld in die Hand genommen werden. Richtig viel Geld. Und es muss sofort in die Hand genommen werden. Nicht, um weiter zu kürzen und die Folgen dieser Kürzungen wieder zu korrigieren, müssen sich die verantwortlichen Politiker zusammensetzen, sondern um Investitionsfelder festzulegen, in die das Geld fließen soll. Infrastruktur, Bildung, Armutsbekämpfung, neue Technologien, Kultur (!). Und sie müssen sich neu verständigen über das Funktionieren einer Währungsunion und darüber, wozu sie dienen soll. Und da kann es nur ein übergeordnetes Ziel geben: Wohlstand. Zu Wohlstand gehört auch eine intakte Umwelt, um sogleich den Wachstumsgegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Die daraus hervorgehenden Investitionen werden Wachstum und Beschäftigung hervorbringen. Sie müssen das schnell vollbringen, denn die Menschen dürfen nicht länger leiden. Entsprechend groß müssen die Ausgaben ausfallen. Der Abbau der Schulden wird das Ergebnis sein. Er kann nie am Anfang stehen. Das zu verstehen, daran entscheidet sich das Schicksal Europas, auch Deutschlands. Wacht endlich auf! Schäuble wird es nicht tun. Wer wird es tun, im Deutschen Bundestag? Wer wird eine Alternative zum Wohle Europas artikulieren? Ich sehe keinen. Keinen!

Wirtschaft und Gesellschaft hat jetzt auch eine und freut sich über jedes “Gefällt mir”.

 


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