Lohnzuwächse, Gustav Horn: Welches sind die Stabilitätserfordernisse?

Der Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunktur (IMK), Gustav Horn, schrieb gestern in MAKRONOM: “So erfüllen die aktuellen Lohnzuwächse in Deutschland nahezu alle Stabilitätserfordernisse”. Welches diese Stabilitätserfordernisse sind, schreibt Horn nicht. Er tut dies nicht zum ersten Mal (siehe unseren offenen Brief an Horn vom 22. März 2016, der bis heute unbeantwortet blieb). Horn schreibt in seinem aktuellen Beitrag lediglich: “Sicherlich, dieser Prozess muss noch über einige Jahre weiter gehen – aber die Verbesserung ist vor dem Hintergrund einer für die Gewerkschaften wieder etwas günstigeren Regulierung des Arbeitsmarktes, z.B. durch die Einführung eines Mindestlohnes, unverkennbar.” Unsere Berechnungen zur Ausschöpfung des Verteilungsspielraums durch die Lohnentwicklung (1) zeigen jedoch gerade, dass die aktuellen Lohnzuwächse in Deutschland ungeachtet der von Horn angeführten Veränderungen nicht das in unseren Augen wichtigste Stabilitätserfordernis erfüllen: die Ausschöpfung des Verteilungsspielraums.

Die Lohnzuwächse sind aktuell hinter den Verteilungsspielraum – Entwicklung der Arbeitsproduktivität plus Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (EZB) – zurückgefallen. Auch die Entwicklung der Tarifverdienste. Für diese galt dies sogar bereits im ersten Quartal.

Die Ausschöpfung des Verteilungsspielraums über eine verteilungsneutrale Lohnentwicklung würde aller Voraussicht nach dafür sorgen, dass die inländische Verwendung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) wieder stärker zulegt. Das würde aller Voraussicht nach dafür sorgen, dass Deutschland auch wieder mehr Nachfrage auf das Ausland richtet. Das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht, der hohe Exportüberschuss Deutschlands, würde darüber aller Voraussicht nach abgebaut (siehe zur Problematik und zur aktuellen Entwicklung des Exportüberschusses in Deutschland hier).

Gustav Horn begeht meines Erachtens einen zweiten Denkfehler, wenn er schreibt:

“Umgekehrt ist derzeit keine inflationäre Lohnbildung in irgendeinem der Krisenländer erkennbar. Damit bestehen die strukturellen Probleme der Vorkrisenzeit derzeit also nicht fort.”

Horn schreibt nicht, was genau die strukturellen Probleme sind. Wenn er damit, was ich vermute, die Lohnstückkostendifferenzen zwischen den Ländern der Europäischen Währungsunion (EWU), ausgehend vom Beginn der EWU 1999, meint und vielleicht sogar berücksichtigt, dass die deutsche Volkswirtschaft bei der bisherigen Lohnentwicklung – die Löhne bilden das mit Abstand größte Nachfrageaggregat der Volkswirtschaft – “strukturell” bedingt zu wenig Nachfrage auf die anderen Länder der EWU wie den Rest der Welt lenkt, findet seine These, dass die strukturellen Probleme der Vorkrisenzeit derzeit nicht fortbestehen würden, keinen Rückhalt. Zwischen Januar und Juli 2016 hat Deutschland für 9,1 Milliarden Euro mehr Waren an die anderen Länder der EWU verkauft, als von dort bezogen. Gegenüber Vorjahreszeitraum sind die Exporte in die EWU in den ersten sieben Monaten des Jahres um 0,8 Prozent gewachsen, die Importe von dort aber um null Prozent. Das sind die jüngsten Ergebnisse des Statistischen Bundesamts nach dem Versendungslandprinzip. Nach dem genaueren Ursprungslandprinzip liegt der Außenhandelsüberschuss, den Deutschland mit der EWU erzielt, deutlich höher (siehe dazu zuletzt hier).

Hinzu kommt, dass es merkwürdig anmutet, dass Horn es offensichtlich als positive Entwicklung ansieht, dass in den Krisenländern derzeit keine inflationäre Lohnbildung stattfindet. Sie dürfte in einigen Ländern sogar weiterhin deflationär sein, war es aber sicherlich in vielen Ländern über Jahre. Damit diese Volkswirtschaften wieder angemessen wachsen können, um die sehr hohe Arbeitslosigkeit zu senken und damit auch die EWU insgesamt politisch wieder zu stabilisieren, bedürfte es aber gerade einer inflationären Lohnbildung, einer Lohnbildung also, die den Verteilungsspielraum ausschöpft und so hilft, das Inflatonsziel der EZB von “unter, aber nahe zwei Prozent” wieder zu erreichen. Aus dieser Logik heraus sorgt sich beispielsweise die amerikanische Notenbank – anders als die EZB – um eine angemessene Lohnentwicklung. Die US-Notenbank hat neben dem Inflationsziel aber auch ein Beschäftigungsziel. Wir fragen uns in unseren Analysen seit langem, warum letzteres von Politik und Gewerkschaftsspitzen mit Verweis auf die USA nicht für die EWU eingefordert wird. Beschäftigung und Inflationsziel sind, nicht zuletzt vermittelt über die Lohnentwicklung, keine voneinander unabhängige Größen, sondern bedingen sich ursächlich.

Was nun Horns Verteidigung der Gewerkschaften bei diesem Zusammenspiel anbelangt, übersieht er etwas kaum zu übersehendes: Dass nämlich führende Gewerkschaftsköpfe eben jene verteilungsneutrale Lohnentwicklung nicht einfordern. Dazu gehört auch die Verteidigung des viel zu niedrig angesetzten Mindestlohns (siehe hierzu zuletzt hier). Detlef Wetzel hielt es als IG-Metall-Vorsitzender 2013 sogar für akzeptabel, wenn der Mindestlohn nicht sofort käme (siehe dazu hier). Es war wiederum der IG-Metall-Bezirkschef Armin Schild, der 2013 forderte, dass die Entwicklung des Mindestlohns der Tariflohnentwicklung folgen solle und nicht umgekehrt (siehe dazu hier). Wie problematisch dies sein kann, war schon damals an der Entwicklung der Tariflöhne ablesbar – und ist es heute noch. Gerade die IG-Metall sorgt auch darüber hinaus über fragwürdige Mittel für die deutsche Exportstärke (siehe zum Beispiel hier). Im jüngsten Verteilungsbericht des DGB wird darüber hinaus explizit die tatsächliche Inflationsrate und nicht das Inflationsziel für den Verteilungsspielraum zugrundegelegt (siehe dazu unsere Analyse hier).

Horn meint nun, diese grundlegende Problematik der unzureichenden Lohnentwicklung in Deutschland über eine expansivere Fiskalpolitik kompensieren zu können:

“Der Euroraum bedarf dringend einer expansiveren Fiskalpolitik, um die Geldpolitik zu flankieren. Erst mit einer durchgreifenden Investitionsbelebung können Stabilität und Wachstum im Euroraum erreicht werden.”

Eine expansivere Fiskalpolitik ist sicherlich notwendig, gerade in Deutschland, das Haushaltsüberschüsse realisiert und seit Jahren Milliardenrückstände bei den Infrastrukturinvestitionen verzeichnet; durchaus schwere soziale Verwerfungen verlangen ebenfalls nach höheren Ausgaben – man denke nur an die gestern in den Medien thematisierte grassierende Kinderarmut in Deutschland und die hohe Arbeitslosenquote, die mit rund sechs Prozent doppelt so hoch liegt wie der Wert, der als Vollbeschäftigung angesehen werden kann, von der Unterbeschäftigung und den prekären Arbeitsverhältnissen ganz zu schweigen. Die Lohnentwicklung aber darf dabei nicht aus den Augen verloren oder gar, wie Horn es tut, schöngeredet werden.

Ungeachtet dieser Kritik stimme ich mit Horn überein, dass es natürlich wünschenswert ist, die Lösung der Probleme mit dem Euro und nicht gegen ihn zu versuchen. Eine Grundvoraussetzung dafür dürfte aber doch sein, die Lohnentwicklung sachlich zu diskutieren.

(1) Siehe zuletzt hier zur Entwicklung der Arbeitskosten. Zur Entwicklung der Tarifverdienste hier. Zur Entwicklung der Lohnindikatoren aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung hier.


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