Endlich, Gerd Gigerenzer beweist: Es gibt nicht nur weltfremde Ökonomen – sondern auch weltfremde Psychologen

Dass deutsche Ökonomen besonders anfällig für chronischen Realitätsverlust sind, ist zumindest denen bekannt, die sich nicht auf die Wirtschaftsredaktionen der Süddeutschen Zeitung und der FAZ verlassen, um nur die beiden Flaggschiffe des ökonomischen und sozialen Realitätsverlustes zu nennen. Nun aber hat denselben auch ein bedeutender Psychologe für sich beansprucht. Gerd Gigerenzer, Direktor am Berliner Max-Planck-Institut (MPI) für Bildungsforschung und damit gewiss gut abgesichert, empfiehlt den Menschen: “Statt Illusionen der Gewissheit zu schaffen, sollten wir den Mut fassen, den Risiken ins Auge zu sehen. Ungewissheit aushalten zu können, ist, was uns zum mündigen Bürger macht.”

Was er offensichtlich nicht im Blick hat: Für immer mehr Menschen gilt es zunächst nicht Ungewissheit, sondern Gewissheit aushalten zu können: die Gewissheit auch am nächsten Morgen nicht genügend Geld auf dem Konto zu haben, um auch nur den notwendigsten Lebensunterhalt bestreiten zu können, oder mit Sanktionen rechnen zu müssen, sollte einem ein von einem Jobcenter für zumutbar erklärter Job als nicht zumutbar erscheinen, oder die Wohnung gekündigt zu bekommen, wenn das Geld für die Miete einfach nicht mehr reicht. Lauter illusionsfreihe Gewissheiten, die die davon Betroffenen fürwahr zu unmündigen Bürgern machen.

In einem anderen, schon etwas länger zurückliegendem Interview, behauptet Gigerenzer: “Schon die Schule versagt. Statt jungen Menschen beizubringen, dass nichts in dieser Welt sicher ist – außer der Tod und die Steuern, lassen wir sie in der Illusion, dass es null Risiko gebe.”

Kann das aber irgendein Lehrer und irgendein Schüler bestätigen? Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass mich die Schule in Sicherheit gewogen hätte. Schon das Fortkommen in der Schule ist schließlich, unabhängig von den erbrachten Leistungen, von vielen Unsicherheiten geprägt, man denke nur an irgendwelche Sympathiewerte, die man aus ganz willkürlichen oder auch willfährigen Gründen bei Lehrern genießt oder nicht genießt oder an die frühzeitige Sorge um einen Ausbildungs- oder Studienplatz usw. Das Risiko beginnt ja im Grunde genommen schon vorher damit, eine Schule zu finden, die mit zumindest einiger Sicherheit einen risikofreihen Unterrichtsverlauf gewährleisten kann.

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Wirtschaft und Gesellschaft hat jetzt auch eine und freut sich über jedes “Gefällt mir”.

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In seinem neuen Buch, über das er das oben aufgegriffene Interview mit der taz geführt hat, behauptet Gigerenzer: “Fakt ist: Wir riskieren zu wenig.”

Ist es aber nicht vielmehr Fakt – sieht man einmal von den gutsituierten Ökonomen und Psychologen ab -, dass uns viel zu viele Risiken in den vergangenen zwei Jahrzehnten aufgebürdet wurden, bis hin zur Individualisierung aller möglichen sozialen Risiken, dass wir auf der einen Seite immer mehr riskieren müssen, auf der anderen Seite aber das sichere Umfeld fehlt, um freiwillig etwas zu riskieren?

Gigerenzer beklagt an anderer Stelle eine “Kultur der Ängstlichkeit und der Absicherung.” Darin gleicht er den Ökonomen, die selbst – wie Gigerenzer – auf gut abgesicherten, vom Staat bzw. vom Steuerzahler finanzierten Positionen sitzen, anderen aber jede Arbeit und Unsicherheit wie selbstverständlich zumuten und das auch noch als Freiheit verkaufen. “Sicherheit gibt es nicht. Es ist also sinnlos, danach zu streben. Es geht vielmehr darum, ein bisschen mehr Freude daran zu haben, Entscheidungen zu treffen”, meint Gigerenzer – und bringt dazu das Beispiel der Speiseauswahl in einem Restaurant in New York: “Und das lässt sich ja im Alltag üben, wo es meist darum geht, kleine Entscheidungen zu treffen, die schnelle Ergebnisse bringen. Im Restaurant zum Beispiel: Die meisten Leute arbeiten sich durch die ganze Speisekarte durch. In New York kann das eine ganze Enzyklopädie sein. Es gibt eine viel einfachere und schnellere Methode: Fragen Sie den Ober, was er heute hier essen würde. Und dann nehmen Sie das.”

Dumm nur, dass immer mehr Menschen nicht einmal die Wahl haben, solch ein oder überhaupt irgendein Restaurant zu besuchen. Aber das sind ja vielleicht nicht die Probleme der Leser der taz, der FAZ oder der Süddeutschen Zeitung, mit denen sich Gigerenzer über seine – bei näherer Betrachtung doch recht platten – Überlegungen unterhält.

Quellen:

Süddeutsche Zeitung, “Ökonomie geht nicht ohne Vertrauen”

FAZ, So wird das Wetter

SWR 2, Wie man die richtigen Entscheidungen trifft


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